Startseite | Impressum | Zeitung | Beiheft | Archiv nach Autoren | Archiv nach Rubriken








Zeitung << 1/2003 << Gastarbeiter gestern und heute


Gastarbeiter gestern und heute

Autorin: Gyöngyi Héjja

Gastarbeiter - einer der „schönsten“ Euphemismen der deutschen Sprache. Im Lichte dieses Ausdruckes erscheint diese Form der Arbeit wie ein Traumjob. Sie zieht die Bürger vieler europäischer Länder und der Staaten im Nahen Osten in der Hoffnung auf ein besseres Leben wie ein Magnet nach Deutschland. Wer würde auch nur eine Minute zögern ein Stellenangebot anzunehmen, wenn man als Gast behandelt wird? Mit den Gästen geht man doch immer freundlich um, sie haben meistens eine privilegierte Position im Vergleich zu den Gastgebern und dürften eigentlich gar nicht arbeiten.

In der Wirklichkeit sieht die Situation ganz anders aus. Die ausländischen Arbeitnehmer werden weder von ihren deutschen Vorgesetzten noch von den Kollegen verwöhnt, nicht einmal gleichberechtigt. Es stellt sich die Frage, wieso dieser Ausdruck nicht durch einen treffenderen ersetzt wird. Die Antwort liegt auf der Hand: Ein prototypischer „Gast“ kann nicht nur mit den oben genannten Eigenschaften charakterisiert werden, sondern impliziert auch die wichtige Tatsache, dass er nach einiger Zeit in seine Heimat zurückkehrt.

Etymologie des Wortes
Es bietet sich auch eine weitere Möglichkeit zur Erklärung dieses lexikalischen Problems. Die Deutschen sollen demnach ihr etymologisches Hintergrundwissen zur Hilfe gerufen haben, als sie jene Arbeitskräfte mit dieser Bezeichnung verbunden haben. Das Wort „Gast“ war nämlich nicht immer nur in seiner heutigen Bedeutung in der deutschen Sprache vorhanden. Von der Zeit der Germanen bis zum ausgehenden Mittelalter wurde der Ausdruck polysem verwendet: Ein Gast konnte ebenso gut ein Besucher wie ein Feind oder ein feindlicher Krieger sein (vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache). Wie die Einstellung eines Teiles der deutschen Bevölkerung gegenüber den auf dem Arbeitsmarkt seit fast einem halben Jahrhundert lang stark vertretenen Gastarbeitern zeigt, scheinen sie diese mittelalterliche Doppelbedeutung bewahrt zu haben und weiterhin aktiv zu verwenden.

Historischer Überblick
Die „Karriere“ der Gastarbeiter in Deutschland begann im Jahre 1955, als der erste Vertrag bezüglich der ausländischen Arbeitnehmer mit Italien geschlossen wurde. Diesem folgten weitere Vereinbarungen mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), Portugal (1964) und Jugoslawien (1968). Diese Kontrakte wurden durch den Arbeitskräftemangel wegen der raschen Entwicklung der deutschen Industrie veranlasst. Die Versuche der Bundesrepublik, die freien Arbeitsstellen zu besetzen, wurden bald mit Erfolg gekrönt. Während im Jahre 1960 330.000 ausländische Arbeitnehmer registriert wurden, stieg diese Zahl 1969 über 1,5 Millionen und 1973 auf 2,6 Millionen. Bis Mitte der 60er Jahre kamen die meisten Gastarbeiter aus Italien, danach erhöht sich besonders die Anzahl der Türken.

Die damalige Situation
Für die Arbeitsverhältnisse der Ausländer war charakteristisch, dass sie dort beschäftigt wurden, wo nur geringe Vorkenntnisse erforderlich waren. Meistens wies man ihnen schwere, gesundheitsgefährdende oder Dreckarbeiten zu, in der Regel für einen Bruchteil der Löhne der deutschen Fachleute. Neben diesen riesengroßen, physischen Anstrengungen mussten sie auch die Verachtung der deutschen Kollegen erdulden, die sie teils aus Angst ihre Stelle zu verlieren, teils aus mangelnden Deutschkenntnissen schweigend ertrugen. Trotzdem funktionierte das System gut, bis sich herausstellte, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer, nicht in die von den Deutschen geprägte Gastrolle passte, und zwar in der Hinsicht, dass sie nach der Erledigung der Arbeit, die die Einheimischen gar nicht oder höchstens mit großem Abscheu zu Ende gebracht hätten, in ihr Vaterland zurückkehren wollten. Statt dessen holten sie ihre Familie nach und begannen ein neues Leben in ihrer zweiten Heimat.

„Lieber 1000 Ratten im Bett als einen Türken im Keller“
Um diesen Sachverhalt zu beweisen, scheint die Vorstellung von Günter Wallraffs Werk mit dem Titel Ganz unten an dieser Stelle angebracht zu sein. Er entschloss sich nämlich 1983 zur Durchführung einer Reportage. Er wollte am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie die Gastarbeiter in der Bundesrepublik behandelt werden, und so verfolgte er nicht die übliche Strategie ausländische Arbeitnehmer zu befragen, um sich über ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse zu informieren, sondern übernahm Kafkas Verfahren der Verwandlung. Er gab seine Existenz als anerkannter deutscher Journalist für geraume Zeit auf, um sich zwei Jahre lang als Ali Levent Sinirlioglu auszugeben, um nach „ganz unten“ zu rutschen, also um als ein türkischer Gastarbeiter tätig zu sein. Was braucht man für eine derartige Verwandlung? Eigentlich nicht viel: Dunkle Kontaktlinsen, eine schwarze Perücke und Verwendung des Gastarbeiterdeutsch – also die Weglassung einiger Silben am Wortende und das Vertauschen des Satzbaus – reichen aus, um als ein Türke angesehen zu werden, und öffnen dadurch den Weg für eine ganze Reihe von menschenunwürdigen Arbeitsmöglichkeiten. Ali hatte das „Glück“, etliche davon selber ausprobieren zu können. Er arbeitete innerhalb dieser Zeit z.B. bei McDonalds, bei verschiedenen Baufirmen und auch als Versuchsperson bei einem Medikamentenhersteller, wo Pharmaprodukte auf ihre Nebenwirkungen getestet wurden. Alle seine dabei erlebten und oft demütigenden Erfahrungen aufzulisten ist an dieser Stelle nicht angebracht. Es reichen auch zwei kurze Geschichten aus, eine Vorstellung über seine Arbeitsverhältnisse und Kontakte zu deutschen Kollegen, um das Los eines Gastarbeiters drastisch zu schildern. Einmal hatte er mit seinen ausländischen Mitarbeitern die Aufgabe in einer Koksmühle mit einer Pressluftgebläse den aufgesammelten, fingerdicken Staub – natürlich ohne Schutzmaske – aufzuwirbeln. Er entnahm einen kleinen Haufen vom Staub und ließ ihn später in einem Labor untersuchen. Das Ergebnis war erschreckend: Es wurde festgestellt, dass die Schadstoffkonzentration darin enorm hoch war. Und diesen Staub mussten sie immer wieder einatmen. Was sein Verhältnis zu den Kollegen betrifft, lässt sich durch eine Aufschrift in der Toilette der Firma treffend charakterisieren: „Lieber 1000 Ratten im Bett als einen Türken im Keller“. Wallraff selbst fasst seine Eindrücke folgendermaßen zusammen: „Ich weiß inzwischen immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann. [...] Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.“

Die heutigen Gastarbeiter
Heute lebt bereits die dritte Generation der eingewanderten Gastarbeiter in Deutschland. Obwohl die Mehrheit unter ihnen arbeitslos ist, haben sie doch nicht vor, Deutschland zu verlassen. Die Argumente können verschiedener Art sein: Es können einen sowohl persönliche als auch politische Gründe zum Bleiben veranlassen. Persönliche, dass die Kinder z.B. auch in Deutschland leben, und politische wie die Gefahr der Verfolgung wegen religiöser oder politischer Überzeugungen in der ursprünglichen Heimat. Auch die Angst keinen Anschluss mehr im Herkunftsland finden zu können, spielt bei dieser Entscheidung eine wichtige Rolle.

Julianna Ferenczi (20) arbeitet mit kleineren Unterbrechungen seit fast einem Jahr in Bernried, in der Nähe von München, in einem kleinen Hotel als Kellnerin. Sie berichtete von einer familiären Atmosphäre, von guten Beziehungen zu den Kollegen und von durchschnittlichen Löhnen. Nach der Fortsetzung des Gesprächs zeigten sich aber auch die Probleme. Ihr Kontakt zur Mehrheit der Mitarbeiter ist wirklich ausgezeichnet, aber jene sind ausnahmslos Ausländer. Die deutschen Kollegen vermeiden ihre Gesellschaft, so kommt es natürlich nicht zu direkten Auseinandersetzungen, aber wenn sie die Möglichkeit haben, Julianna an ihrer Arbeit zu hindern, tun sie es ohne zu zögern. Das Vorhandensein von Vorurteilen gegenüber Ungarn leugnet sie, aber sie gibt zugleich zu, dass polnische, irakische und schwarze Mitarbeiter anders beurteilt werden. Sie ist der Meinung, ein großes Glück gehabt zu haben, dass sie eben in jenem Hotel beschäftigt wurde, da sie von vielen Gastarbeitern hörte, die ihren Aufenthalt in Deutschland unter viel schlimmeren Bedingungen verbrachten. Julianna will noch ein Jahr in Bayern bleiben, um die finanzielle Basis für ihr Studium, das nichts mit der Gaststättengewerbe zu tun haben wird, zu schaffen. Ob diese Entscheidung mit ihrer jetzigen Stelle zusammenhängt, bleibt ihr Geheimnis.