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Zeitung << 1/2011 << Von der Benrather Linie nach Brüssel – Spaß muss sein!


Von der Benrather Linie nach Brüssel – Spaß muss sein!
Wie viel ist ein Germanistikdiplom auf dem internationalen Arbeitsmarkt wert?

Autorin: Ildikó Hegedûs

Ob ich denn wirklich Germanistik studieren wolle. Nichts für ungut, sie meine es ja nur unter rein ökonomischen Gesichtspunkten. Sie würde mir eher zu BWL oder Jura raten, ich hätte doch das Zeug da­zu. So meine Klassenlehrerin, als ich sie als Abiturientin mit meinen Zukunftsplänen konfrontierte. Sie meinte es bestimmt gut mit mir. Ich aber wollte Spaß, d.h. etwas studieren, was mit Sprache und Literatur zu tun hat. Darüber, was ich später mit meinem Diplom anfangen würde, machte ich mir damals herzlich wenig Gedanken. Ich werde halt Lehrerin wie meine Mutter. Ist doch ein anständiger und schöner Beruf. Dass man schlecht davon leben kann? Mag sein, aber lieber glücklich im Job mit wenig Geld in der Tasche, als gut bezahlt irgendwo hinvegetieren, wo man nichts verloren hat, so ich mit 18 Jahren.
Gesagt, getan, ich meldete mich zum Germanistikstudium an der Universität József Attila an (da­mals hieß sie noch so, und ich bin mit ihrem derzeitigen einfallslosen, wiewohl praktischeren Namen SZTE bis heute nicht so richtig warm geworden). In punkto Spaß kam ich auf meine Kosten – da gab’s alles, was das Herz eines nahe an Philologie gebauten Wesens begehrt. Noch dazu lernte ich tolle Menschen kennen, Lehrkräfte wie KommilitonInnen (wobei man dieses letztere Binnen-I angesichts der damals herrschenden Geschlechterverhältnisse im Studiengang fast unterschlagen könnte), und knüpfte Freundschaften, die auch heute noch halten. Um den Abschied von meiner geliebten Alma Mater hinauszuzögern, meldete ich mich zum Aufbaustudium Dolmetschen und Übersetzen an, und versuchte mich sogar als PhD-Studentin.
Alles deutete also bei mir auf eine akademische Laufbahn hin, bis ich eines Tages (2003) auf eine Mit­teilung in einer Zeitung stieß: Die EU suchte MitarbeiterInnen aus den zehn neuen Beitrittskandidatenländern. Es hörte sich alles ziemlich gestelzt an: „europäische Laufbahn“, „Personalauswahl“, „Funktionsgruppen“ etc. Die Zulassungskriterien für das Auswahlverfahren waren jedoch erstaunlich simpel: die Staatsbürgerschaft eines der zehn „neuen“ EU-Länder, Englisch-, Französisch- oder Deutschkenntnisse und ein Hochschulabschluss (oder nicht mal das, je nach der anvisierten Position). Da war doch gar keine Rede von Flexibilität, Teamfähigkeit, Belastbarkeit, Stresstoleranz, Kreativität, min­destens drei Jahre Berufserfahrung, aber bitte nicht älter als 25! Alles, was man praktisch verlangte, war die „gründliche“ Kenntnis der – in meinem Fall – deutschen Sprache! Ach, ich weiß doch, wo die Benrather Linie verläuft, das wird wohl gründlich genug sein, sprach ich mir zu, als ich dann auf der Webseite des Europäischen Amtes für Personalauswahl (in erster Linie unter dem Namen EPSO bekannt) eines der Anmeldeformulare – eher zum Spaß – ausfüllte. Von den angegebenen Laufbahnen VerwaltungsrätInnen, Rechts- und Sprachsachverständige, BüroassistentInnen entschied ich mich für letzteres (da verstand ich wenigstens, was man meinte). Es wird schon klappen, dachte ich, hatte ich doch schließlich als Hiwi genug Erfahrungen mit Kopiergeräten gesammelt. Diese Überheblichkeit gegen­über dem Berufsstand der SekretärInnen sollte sich noch rächen: Ich wurde eine, und zwar bei der Generaldirektion Unter­nehmen und Industrie der Europäischen Kommission in Brüssel. Davon trennten mich allerdings noch anderthalb Jahre, d.h. eine Reihe Vorauswahltests und eine schriftliche Prüfung (in Budapest), eine mündliche Prüfung (in Luxemburg) und nachdem ich auf die heiß ersehnte Reserveliste kam, so etwa zehn Einstellungsgespräche (in Brüssel, alles in zwei Tagen). Logisches Denken, Zahlenverständnis, ein sicherer Umgang mit Word und Excel, Lese­verstehen, Fakten und Daten über die EU, Organisationstalent, Problemlösungsfähigkeit – auf all das hin wurde ich in diversen Tests begutachtet, die ich zu meiner größten Überraschung alle bestand. Wenn schon, dann wollte ich auch hin, und hängte mein PhD-Studium zuerst vorübergehend, später endgültig an den Nagel. Was also als Schnaps­idee startete, krempelte letzten Endes mein ganzes Leben um.
Und wie es so ist, für die EU zu arbeiten? Faszinierend, herausfordernd, surreal bis zu nerven­aufreibend, aber ein Privileg in jeder Hinsicht, und dank den KollegInnen unterschiedlicher Nationalität und der daraus resultierenden babylonischen Sprachverwirrung amüsant und bereichernd. Selbst als kleine Schraube in einer bisweilen kafkaesk anmutenden Maschinerie hat man das Gefühl, inmitten des Geschehens zu sein, u. a. weil man oft schon im Voraus erfährt, was am nächsten Tag in den Zeitungen steht. Gewöhnungsbedürftig war es für mich allerdings, auf einmal zur „anderen Seite“ zu gehören. „Die in Brüssel“, das war plötzlich auch ich, und immer öfter ertappe ich mich dabei, wie ich einge­fleischte EU-Gegner von der hehren Idee der europäischen Integration zu überzeugen versuche.
Nun, um auf die eingangs erwähnten Besorgnisse meiner Lehrerin zurückzukommen: Ja, es lohnt sich auch finanziell. Lasst euch also nicht einreden, dass man mit eurem Diplom „nichts“ anfangen könne. Worauf es ankommt, ist etwas Glück und eine gute Portion Aben­teuerlust. Eines muss ich allerdings gestehen: Leider hat niemand in Brüssel nach der Benrather Linie gefragt. Alle Einstellungsgespräche verliefen auf Englisch und über völlig andere Themen. Man kann zwar mit der Sprachkombination Ungarisch und Deutsch über die einzelnen Runden des Auswahlverfahrens kommen, aber in den europäischen Institutionen werden Englisch und Französisch als lingua franca benutzt. Wenn ihr es also mit der Bewerbung ernst meint, kann ich nur raten, euer Englisch aufzufrischen und/oder Französisch zu lernen. Wer weiß, vielleicht werden wir eines Tages Kollegen! Mittlerweile arbeite ich als Übersetzerin bei der Europäischen Kommission in Luxemburg und ich biete mich immer gerne als Mentorin für unsere neuen KollegInnen in der ungarischen Sprachabteilung an. Auf ein baldiges Wiedersehen! A bientôt! Hope to see you soon!




Mehr zu den Auswahlverfahren und den verschiedenen Laufbahnen, Bei­spiele für Aufnahmetests, einen Bewerbungsleitfaden usw. gibt es auf der Homepage von EPSO: http://europa.eu/epso/index_de.htm. Es lohnt sich, alle paar Monate einen Blick auf diese Seite zu werfen, besonders auf den Menüpunkt „Aktuelles“. Facebook-Fans können sich gerne der Gruppe „EU Careers” anschließen, um auf dem Laufenden zu bleiben. Diejenigen, die zuerst mal eher auf eine kleine europäische Kostprobe aus sind, können sich für jeweils fünf Monate als PraktikantIn bewerben. Das Auswahlverfahren hierzu ist wesentlich einfacher: Vorauswahl der KandidatInnen auf Grund der Lebensläufe, anschließend Einstellungsgespräche. Alle weiteren Infos findet ihr auf der Homepage des Praktikantenbüros der Europäischen Kommission: http://ec.europa.eu/stages/index_de.htm.