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Zeitung << 1/2011 << Komplexe Probleme im ungarischen Deutschunterricht


Komplexe Probleme im ungarischen Deutschunterricht
Ein Gespräch mit Katalin Petneki

Autorin: Ildikó Piróth

Das Deutschlernen ging in der letzten Zeit weltweit stark zurück. In Ungarn ist das leider auch zu spüren. Im folgenden Gespräch, das das GeMa mit der Universitätsdozentin Katalin Petneki geführt hat, spricht die Fachdidaktikerin über wichtige Fragen der Lehrerausbildung, Probleme im Deutschunterricht, Deutschlehrwerke sowie über Probleme des Bologna-Systems.

Was für Probleme sehen Sie im Deutsch­unterricht?
Die Probleme sind alt und vielseitig, und sie beschränken sich nicht nur auf den Fremdsprachenunterricht. Das grundlegende Problem ist, dass sich vor 20 Jahren bei der Systemveränderung ein Lehrermangel dadurch herausstellte, dass das Russische ein Pflichtschulfach war. Andere Sprachen kamen in den Vordergrund, und es gab nicht genug Lehrer. Sehr schnell wurden sehr viele Lehrer ausgebildet – aus den Russischlehrern – und so kamen seit der Mitte der neunziger Jahre, also von 1994 bis 1995 viele Sprachlehrer in die Schulen. Das bedeutete ungefähr bis zum Jahre 2000 kein Problem, aber um die Jahrtausendwende erschien das Problem, dass die Gesamtzahl der Schüler drastisch zu sinken anfing. Das wurde durch Gruppentrennung zu lösen versucht, aber das konnte das Land finanziell nicht vertragen.
Das Englische ist aber Weltsprache und kam in den Vordergrund, und die anderen Sprachen wurden von den StudentInnen nicht oft gewählt. Eine Ungleichheit bildete sich heraus, dass immer mehr Englisch lernen wollten. Dass die anderen Sprachen nicht ganz verschwanden, ist dem zu verdanken, dass es in den Schulen noch andere Sprachlehrer gibt, denen Stunden zu geben sind. Der Deutschunterricht lebt davon, dass es noch sehr viele Sprachlehrer in den Grundschulen gibt. Die Anzahl der sich zur Lehrerausbildung Meldenden fiel auch sehr zurück. Während es vor der Einführung von Bologna, also in der Zeit vor dem Studienjahr 2007, 50-60 deutsche Lehramtskandidaten in einem Studiengang in Szeged gab, gibt es jetzt nur 10-15. Das ist ein sehr bedeutender Rückfall. Es gibt aber einen riesengroßen Rückfall auch im Niveau. Das bedeutet, dass sehr viele versuchen, diese Ausbildung mit schwachen Sprachkenntnissen zu absolvieren. Das könnte nur mit radikalen Veränderungen geheilt werden, was ein längerer Prozess sein muss. Die Veränderungen sind nämlich nur vom ersten Semester an möglich. Die Wirkung der Bildungsreformen wäre erst nach 5-10 Jahren zu fühlen.

Was denken Sie, wo sollte man das anfangen? Im Grundschulunterricht, in der Lehrerausbildung oder im Aufnahmesystem?
Überall. In den verschiedenen Schultypen werden verschiedene Sachen erwartet. Die Gewohnheit und die Vorstellung der Lehrer waren, dass die Lehrer arbeiten, um der nächsten Schulebene zu entsprechen. Die Grundschule tut so wie eine kleine Mittelschule und die Mittelschule wie eine Hochschule oder eine Universität. Das ist aber der Altersklasse nicht entsprechend. In den Grundschulen braucht man viel mehr praktische, spielerische, zur Handlung anregende Aufgaben. In den Mittelschulen braucht man solche Sachen, die das Interesse der Schüler erwecken und die Kompetenzen entwickeln. In der täglichen Lehrerpraxis ist aber darauf die Antwort: „Dafür gibt es aber keine Zeit, weil der Lehrplan eingehalten werden soll.“ Die ganze Regelung soll man wieder durchdenken. Dieses Jahr wird der Nationale Lehrplan (Nemzeti Alaptanterv; NAT) durchdacht. Auch im Hochschulwesen soll sehr viel geändert werden, obwohl es vor kurzem eine sehr bedeutende Änderung gab, das Übertreten zu Bologna. In der Lehrerausbildung war es sofort von Anfang an zu fühlen, dass es nicht funktioniert. Es wurde zu schnell und eilig eingeführt.

Wäre es also vielleicht besser, die ungeteilte Ausbildung in der Lehrerausbildung wieder einzuführen?
Es scheint, dass die Entscheidung da ist. Man hätte Bologna auch gut machen können, aber nicht so schnell. Das kann so aber nicht funktionieren, und es ist möglich, dass eine einheitliche Bildung wiederhergestellt wird. Es ist aber fraglich, ob es endlich gelingt, die Änderungen nach fachlichen Gesichtspunkten und nicht nach Lobby-Kräften zu lösen.

Wie ist der heimische Lehrbuchmarkt? Was für Gesichtspunkte bevorzugen die Sprachlehrer bei der Auswahl der Lehrbücher?
Ich habe einmal eine Umfrage gemacht, deren Ergebnisse gezeigt haben, dass die Lehrer fachlich gute Lehrbücher bevorzugen würden. Aber weil die Eltern das Lehrbuch kaufen sollen, dominiert meistens der Preis und dass das Buch leicht zugänglich ist. In dieser Frage spielen die pädagogische Erfahrung und die fachmethodische Ausbildung/fachmethodischen Kenntnisse eine große Rolle. Wenn jemand sich an eine geschlossene Methode gewöhnt hat, kann er mit einem offen aufgebauten Lehrstoff nichts anfangen. Die deutschen Sprachbücher, die in Ungarn herausgegeben wurden, sind in einer engen, festen Struktur geschrieben. Überregionale Lehrwerke werden von deutschen Verlagen herausgegeben. Die Konzeptionen dieser Bücher sind offen, die Lektionen und Aufgaben kann man in unterschiedlicher Weise variieren, sie richten sich nicht nach einer streng aufgebauten Methode, sondern wollen eben die Kommunikation fördern. Der Leitfaden des Aufbaus ist in diesen Lehrbüchern anders. Diese Lektionen beginnen mit einem Inputtext, also das Textverstehen ist das erste, womit der Sprachunterricht beginnt, darauf baut die Textproduktion auf.
Es gibt sehr wenige fachlich gute Bücher von den heimischen Verlagen. Die Bücher verändern sich sehr oft. Es gibt kein perfektes Buch, weil die Schülergruppe immer anders ist. Der Lehrer soll über die Kompetenzen verfügen, nach der Auswahl des entsprechenden Lehrbuches das im Buch stehende Lehrmaterial für die gegebene Gruppe adaptieren zu können. Man soll wissen, was man ändert, hinzugibt oder auslässt. Das Wichtigste ist, dass das von uns ausgewählte Lehrbuch der Altersklasse entspricht. Nach der Systemwende kamen die westlichen Bücher ins Land, die früher nicht vorkamen. Diese Bücher wurden in den Mittelschulen und auch in den Grundschulen verwendet, obwohl sie nicht für Kinder, sondern für Erwachsene geschrieben wurden. Nach ein paar Jahren ist man darauf gekommen, dass es nicht gut ist, aus diesen Büchern Kinder zu unterrichten.

Leider ist die deutsche Sprache nicht sehr populär. Worin sehen Sie den Grund dafür? Was für Gründe stehen im Hintergrund?
Der eine Grund dafür ist, dass viele Lehrer in die Schulen geraten sind, die wegen der schnellen Ausbildung über nicht so gute Kompetenzen verfügen. Die motivierende Kraft, das Engagement fehlt in den meisten Fällen. Die motivierende Kraft können die Lehrer mit sich nehmen, die in dem Sprachgebiet gelebt haben, die sich persönlich betroffen fühlen. Im Falle des Englischen ist diese persönliche Betroffenheit zu fühlen. Das Englische beherrscht die Mode, die Musik, die Welt des Computers. Warum nimmt man sich nicht die Mühe, zu zeigen, was für tolle Sachen im Internet auf Deutsch zu finden sind? Man könnte z.B. mit den Schülern eine deutschsprachige Facebook-Gruppe machen. Man soll solche Sachen suchen und machen, die die heutigen Kinder interessieren. Der zweite Grund ist, dass es gelungen ist, das Gerücht zu verbreiten, dass das Deutsche eine schwere Sprache sei. Natürlich, wenn man so unterrichtet, kann jede Sprache schwer sein. Die Aufgabe der Lehrer ist, zu erreichen, dass nicht diese Auffassung herrscht. Man soll herausfinden, was die Schüler motiviert, die Sprache zu lernen. Es gibt eine Schule, in der die Schüler jedes Jahr nach Österreich fahren zum Skilaufen. Sie konnten erleben, dass sie mit den wenigen Wörtern, die sie gelernt haben, etwas erreichen können. Das erlebnismäßige Sprachenlernen macht sehr viel aus. Es ist aber natürlich schwer, dafür die Möglichkeit unter den schulischen Umständen zu schaffen.

Gibt es Unterschiede in den Erwartungen dem Sprachunterricht gegenüber in den Fachmittelschulen und in den Gymnasien? Inwieweit gelingt es den Schulen, diesen Erwartungen zu entsprechen?
Für die Schultypen gibt es keine zentrale staatliche Vorschrift. Alle Schulen bestimmen in ihrem eigenen örtlichen Lehrplan die Ziele. In den Gymnasien ist es obligatorisch, mindestens zwei verschiedene Fremdsprachen zu lernen, und in einer von denen soll eine Abiturprüfung abgelegt werden. In den Fachmittelschulen sollen die Schüler nur eine Sprache lernen, der Sprachunterricht hängt von den Fachbereichen ab, also ob es ein Fach ist, in dem Sprachen wichtig sind oder nicht. Die Schulen sollen den in dem örtlichen Unterrichtsplan formulierten Zielen entsprechen. Das verursacht die großen Unterschiede zwischen den verschiedenen Schultypen. Eine Fachmittelschule denkt oft, dass eine Fremdsprache zu unterrichten nicht nötig ist, obwohl das Sprachenlernen selbst auch in anderen Kompetenzen, in der Entwicklung der Lernfähigkeit eine sehr große Rolle spielt.
Das Sprachenlernen hat nicht nur den Vorteil, dass jemand eine andere Sprache sprechen kann, sondern während des Sprachenlernens ist es möglich, verschiedene Lernstrategien zu erwerben, das Denken ständig zu entwickeln. Diese Rolle des Sprachenlernens sollte man besser bewusst machen.

Ist es nicht nur von dem Schulsystem, sondern auch von dem Sprachunterricht in den Schulen festzustellen, dass er gesellschaftliche Unterschiede reproduziert?
Wahrscheinlich ja. Die Personen, die im zweisprachigen Sprachunterricht lernen können, werden höhere Sprachkompetenzen, einen breiteren Gesichtskreis (Blickwinkel), eine offenere Persönlichkeit haben. Es ist ein Missverständnis, dass man aufgrund der Chancengleichheit von allen Lernern dieselben Leistungen erwartet. Es wäre wichtig, dass jeder Schüler seinen Fähigkeiten nach an entsprechenden Schulen lernen könnte. Sehr viele Misserfolge sind dafür verantwortlich, dass jemand sitzenbleibt oder mit dem Lernen aufhört. Deshalb wurden verschiedene Schultypen erfunden, damit jeder sich seinen Fähigkeiten entsprechend entwickeln kann und dementsprechende Erfolge erreichen kann.

Die Fortsetzung des Gesprächs mit Katalin Petneki über die Probleme im ungarischen Hochschulwesen und in der Lehrerausbildung wird im nächsten GeMa-Heft (Febru­ar 2012) zu lesen sein.