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Zeitung << 1/2011 << Feuilleton und Philologie


Feuilleton und Philologie
Eine Verführung zur deutschen Sprache

Autor: Marco Winkler

Vom Zustand der deutschen Sprache ist in letzter Zeit viel zu lesen und zu hören: Sie sei durch die vielen Anglizismen bedroht, die Überfremdung und eine immer dümmer werdende Jugend führen zu einem immer schlechteren Deutsch, und daher fühlen sich deutsche Politiker und BILD zu ihrer Rettung berufen. Sie müsse zu ihrem Schutz sogar im Grundgesetz verankert werden, damit sie nicht ganz dem Verfall anheimfalle. In dieser für die deutsche Sprache scheinbar so schwierigen Zeit hat Thomas Steinfeld, leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, ein Buch geschrieben, in dem er über „die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann“ erzählt.

Der Sprachverführer ist ein Buch über die deutsche Sprache, ihre Besonderheiten, ihre Vielfalt, ihren Reichtum. Das Material hierfür stammt hauptsächlich aus literarischen Texten, und so beginnt es mit dem ersten Satz aus Kafkas Die Verwandlung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“. An diesem Satz erörtert der Autor die Beziehung von Haupt- und Nebensatz, die Besonderheiten des Satzbaus, die Wortstellung, insbesondere des Verbs, und den Satzrhythmus. Dabei schildert er den Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten, wobei literarische und grammatische Analyse untrennbar zusammengehören, da nur so zu beschreiben ist, wie dieser Satz wirkt und warum er gut und gelungen ist. Und gelungen ist er, aber ist er auch perfekt?
In den weiteren Kapiteln zeigt Thomas Steinfeld an literarischen Beispielen älterer und neuerer AutorInnen – Thomas Mann, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Peter Handke, Robert Musil, Heinrich von Kleist u.a. – die Vielfalt der deutschen Sprache, die Möglichkeiten, die uns ihr Formenreichtum bietet. Die schwachen und starken Verben, ihre sprachhistorischen und stilistischen Besonderheiten werden ebenso diskutiert wie die Anzahl der Tempora und wozu sie gut sind, welche Bedeutungen und differenzierenden Wirkungen sie haben. Es geht um die Kasus, die auch Muttersprachlern manchmal Probleme bereiten, die Konjunktionen, die Satzklammern, den Konjunktiv und die Präpositionen und Präfixe, die vor allem den Verben eine große Ausdrucksvielfalt verleihen, wie in Robert Gernhardts Gedicht Setzen, Stellen, Legen u. a.: „Was hast du denn da angestellt / mit dem, was ich da aufgestellt? / Du hast dich nicht nur drangestellt / du hast dich auch noch draufgestellt …“.

Über gutes und schlechtes Deutsch
Klagen über den Verfall des Deutschen gibt es seit Jahrhunderten, sinnvoll waren sie nicht. Wichtig ist vielmehr ein Bemühen um guten Stil, um gutes Deutsch, und das hat verschiedene Ausprägungen: „Selbstverständlich kann man die deutsche Sprache lieben. Aber man sollte sie nicht auf die unfruchtbare Weise lieben, die auf einem bestimmten Zustand insistiert und ihn gegenüber aller Veränderung behaupten will – nicht pedantisch, sondern leicht und mit einem Blick für das Komische“. Gute Sprache folgt nicht immer den Lehrbüchern, ein freier Umgang mit der Grammatik muss, wie Kurt Schwitters „Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe dir!“ oder Beispiele von Kafka, Lessing und Goethe zeigen, nicht immer schlecht sein.
Aber nicht nur gutes Deutsch wird im Buch thematisiert, auch schlechtes, und das findet sich nicht in Anglizismen, in fremden Einflüssen; diese können die Sprache sogar durchaus bereichern: das „Verb >dealen< zum Beispiel oder das Adjektiv >cool< können Dinge ausdrücken, für die es kein deutsches Wort gibt und für die es keines geben muss“. Nein, schlechtes Deutsch finden wir vielmehr in der lähmenden Sprache von PolitikerInnen und ManagerInnen, deren Metaphern nicht veranschaulichen, sondern verbergen, deren Phrasen eine abgeschirmte Realität schaffen, bestehende Fakten bestätigen und dem Kaschieren von Interessen dienen. Ein Beispiel für diese Phrasensprache liefert Josef Ackermann, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank: „Wir werden unseren Kurs der zeitnahen Transparenz fortsetzen und uns unvermindert für zielführende (ein Wort, das meine Rechtschreibprüfung nicht kennt – M.W.) Reformen des Finanzsystems insgesamt einsetzen.“ Ein ominöses Wir, das einen unangreifbaren Führungskreis abschottet, Transparenz (Durchsichtigkeit?) zu einem ungeklärten Zeitpunkt, ein ungenanntes Ziel und ein Einsetzen für etwas, aber nicht dessen Durchsetzung. Solche Sätze sind schlecht (nicht nur) für die Sprache.

Deutsch ist eine lebendige Spache
Indem der Autor die deutsche Sprache beschreibt, entwirft er auch eine Sprach- und Kulturgeschichte des Deutschen seit dem Mittelalter. Seit dieser Zeit, insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert, entstand eine einheitliche Hochsprache, die sich zur prägenden mitteleuropäischen Kultursprache entwickelte und die auf einem großen Gebiet gesprochen wurde, vom Baltikum bis Elsass-Lothringen, von der Nordsee bis Siebenbürgen (auch Bram Stokers Dracula sprach gut Deutsch). Diese Sprache wurde vor allem durch Literatur, Theater, Wissenschaften, Philosophie und Religion geschaffen, und ihre Stärke und Lebendigkeit beruhte auf der Fähigkeit, offen für fremde Einflüsse zu sein, diese zu respektieren und in sich aufzunehmen, auf dem Nebeneinander von Entlehnung und Neuschöpfung. So konnte sich das Deutsche frei entwickeln, und auf diese Weise bildete es sich als Kultursprache heraus, nicht als Staatssprache, denn ihr Kulturraum fiel nicht mit dem Gebiet eines Staates zusammen, der sie hätte fördern, normieren und reglementieren können. Das änderte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts, als ein deutscher Nationalstaat sprachliche Regeln und Normen setzen konnte.
Angenehm an diesem Buch ist, dass es nicht oberlehrerhaft Gebote aufstellt, wie man zu schreiben hätte, sondern Angebote vorstellt, wie gutes Deutsch geschrieben wurde und wird. Dabei ist es feuilletonistisch geprägt; das betrifft die leichte, kurzweilige und unterhaltende Sprache, aber auch die Erwähnung von AutorInnen, die LeserInnen, die nicht philologisch ausgebildet sind und nicht regelmäßig die Feuilletons der großen deutschsprachigen Zeitungen lesen, wohl nicht geläufig sind. Das mindert aber nicht die Freude beim Lesen. Fehlendes Fachwissen kann man sich gegebenenfalls anlesen. Oder auch nicht. Da das Buch aus dreiunddreißig kurzen Kapiteln besteht, die auch jedes für sich zu genießen sind, kommt es oft zu kurzen Wiederholungen, die jedoch keine Langeweile aufkommen lassen.
Es handelt sich auch um ein philologisches Buch in dem Sinne, dass literarische und sprachliche, literaturwissenschaftliche und linguistische Aspekte gleichermaßen zur Charakterisierung der deutschen Sprache herangezogen werden. Dieses philologische Vorgehen verleiht dem Buch seine Argumentationskraft, und eine solche einheitliche, literaturwissenschaftlich wie linguistisch agierende Philologie ist Kulturwissenschaft. Eine solche Philologie kennt Thomas Steinfeld aus der praktischen wie der theoretischen Perspektive; er ist nicht nur Feuilletonist, sondern war auch Deutschlehrer in Schweden, Lektor für Germanistik an der Universität Montreal in Kanada und ist seit 2006 Titularprofessor am Kulturwissenschaftlichen Institut an der Universität Luzern. Es ist ein Buch für Lehrende und Studierende der Germanistischen Philologie ebenso wie für alle, die gern gutes Deutsch lesen und schreiben (wollen). Und für alle, die nicht gern geführt werden, sondern sich lieber verführen lassen.


„Es soll, es kann hier also gar nicht darauf ankommen, die Sprache zu regeln oder Vorschriften zum besseren Gebrauch zu erlassen. Geregelt ist sie schon genug, ja viel mehr als genug, nicht zuletzt für die Sprache. Vor allen Regeln und Vorschriften hätte demgegenüber erst einmal die gute Bekanntschaft zu stehen, und nicht nur diese, sondern auch eine Vertrautheit im Umgang, eine durch Anerkennung, ja Respekt geprägte Kenntnis von Bestand, Geschichte und Möglichkeiten der deutschen Sprache. Denn es gibt sie ja, und sie tut offenbar was sie leisten soll, mehr oder weniger. Und so ist es schon lange: Sie ist das Ergebnis von vielen hundert Jahren Umgang mit der deutschen Sprache, und sie verbindet die Gesellschaft, die Jungen und die Alten, die Reichen und die Armen, die Lebenden und die Toten – und sogar die Gebildeten und die Ungebildeten.“ „>Stark< sind die älteren und häufig gebrauchten Verben aus dem indoeuropäischen Fundus, während die schwachen Verben eine Errungenschaft der germanischen Sprachen sind und aus anderen Wortklassen abgeleitet werden können. […] Die >starken< Verben besitzen der Reiz des Archaischen und verfügen mindestens im Präteritum und im Konjunktiv II über den Vorzug deutlich unterschiedener Vokalqualitäten, so dass sie auch stilistisch >stärker< wirken.“