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Zeitung << 1/2011 << Fünf Jahre an der Uni Szeged


Fünf Jahre an der Uni Szeged
Rückblick auf die Studienjahre – Vorausblick in die Zukunft

Autor: Robert Lessmeister

Wie vor meinem Studium in Szeged wohne ich wieder in Budapest. Jedes Mal, bis vor sechs Jahren, wenn ich schon in die Nähe der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE) in Budapest kam, wurde ich von einem unguten Gefühl erfasst, was anfangs eine milde Sehnsucht war, und mit der Zeit immer stärker wurde, um dann schließlich in eine dumpfe Resignation überzugehen. Es war nämlich das Gefühl, etwas unwiederbringlich verpasst zu haben. Der Riesenkomplex kam mir immer als etwas Fernes, für mich Unerreichbares vor, den ich nicht einmal zu betreten das Recht hatte.
Das Schicksal wollte es aber so, dass ich das Versäumte an der Szegeder Uni nachholen durfte. Dass mein Leben vor sechs Jahren eine solche Wendung nehmen würde, konnte ich selbst wenige Wochen vor meinem Umzug nach Szeged nicht ahnen.
Zufällig führt jetzt mein Weg an der ELTE vorbei. So tief sind aber die früheren Einprägungen, dass ich auch heute noch unbewusst beim Anblick der hiesigen Universität dieses Schauern verspüre. Dann gehe ich ein paar Schritte weiter und verfalle in Nostalgie und befinde mich schon in Gedanken im rollenden Zug nach Szeged. Die Erinnerungen werden langsam wieder lebendig, eine andere Realität, die mir auch heute wie ein Traum vorkommt.
Es ist mir aber tatsächlich passiert und ich muss an den Tag denken, als ich den Bescheid zur Zulassung zum Studium in den Händen hielt. Nun musst du dich aber zusammenraffen, sagte ich zu mir selber. Würde ich das wirklich schaffen? Dann fasste ich ein bisschen Mut, als ich das Petõfi-Gebäude der Philosophischen Fakultät erblickte, weil mir der phantasiearme Panelkoloss keinen besonderen Respekt einflößte.
Und so kam der Universitätsalltag mit seinen Sitzungen und Dozenten. Alles wunderbare Persönlichkeiten. Und die spannenden Vorträge von Professor Bassola. Ich will aber nicht behaupten, es sei alles vollkommen gewesen. Der Kursbelegungs- und Prüfungsstress hat vielen das Leben schwergemacht. Das ETR, dem ich in einem früheren GeMa-Heft einen Extraartikel widmete, war ein Alptraum. Gewiss könnte vieles verbessert werden. Vielleicht könnte mehr Wert auf den praktischen Gebrauch des Deutschen gelegt werden. „Ich verlerne langsam die Sprache, die ich mir in den Jahren angeeignet habe, als ich als Au-pair arbeitete”, hörte ich oft Studentinnen seufzen.
Im zweiten Semester bekam ich ein Exemplar des GeMa in die Hände. Mit Herzklopfen blätterte ich darin. Texte, die von Studierenden verfasst werden? Als Mitautor wagte ich mich da kaum vorzustellen. Bis ich doch eines Tages Tamás Kispál fragte. Ja, jeder darf im Rahmen eines GeMa-Kurses mitschreiben. Und so kam es, dass ich mich ab dem dritten Semester permanent am Schreiben beteiligte. Sonst hätte ich wohl nie entdeckt, welche unheimliche Freude ich am Verfassen von Texten habe. Ich habe dadurch sehr viel gelernt und kann jetzt viel bewusster mit dem Deutschen umgehen.
Dabei ist selbst das GeMa nicht vollkommen. Daher sollten wir ständig Kritik üben, wurde uns dauernd eingeprägt. Doch wir haben es nicht genug beherzigt. Zu tief sind die alten Gewohnheiten in uns verankert. Als sei Kritik etwas Negatives, Beleidigendes. Neben den gutgelungenen Texten gab es auch ab und zu unpersönliche „Zwangsaufträge“, z.B. über kulturelle Ereignisse, über die berichtet werden musste, welche von uns Studierenden aber selten gelesen wurden.
Dann werde ich plötzlich aus den Erinnerungen gerissen. Der Zug kommt in Szeged an, und ich folge dem Studentengedränge, das sich langsam in verschiedenen Richtungen auflöst. Jede Straße ist mir vertraut, und es ist, als würde ich heimkommen. Das Herz wird mir aber schwer, da ich immer wieder mitansehen muss, wie wunderschöne, denkmalartige Häuser abgerissen werden. Das Stadtbild ändert sich langsam.
Ich betrete die Universitätsbibliothek. Alles ist beim Alten, wimmelnde junge Leute, doch ich sehe kein bekanntes Gesicht mehr. Es ist schon eine neue Studentengeneration. Dann statte ich noch Lívia Somogyi, einer alten Bekannten, die ich zur Mentorlehrerin während meines Unterrichtspraktikums hatte, einen Besuch ab. Unsere Bekanntschaft reicht aber weit zurück in meine Gymnasialzeit in Budapest, als sie ein Jahr lang meine Ungarischlehrerin war. Unsere Wiederbegegnung in Szeged, wo sie seit 1985 lebt, war reiner Zufall. Die Zeit ist knapp und ich mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Gerade noch erwische ich den Zug. Langsam entfernen sich die Doppeltürme des Doms. Ich grüble nach: Was haben wir uns anfangs von diesem Studium versprochen? Welche Pläne hegten wir und was ist daraus geworden? Viele glaubten vielleicht, sie würden nach dem Studium ihren Traumjob auf einem Tablett serviert bekommen. Selbst hatte ich keine Illusionen. Ich machte das nur einfach so, des Studiums wegen. So bin ich auch nicht enttäuscht, kein hauptberuflicher Lehrer oder Linguist zu sein. „Von Linguistik kann man nicht leben“, warnten mich oft Linguisten aus Deutschland. Ich erlebe viele frustrierte ehemalige Studierende, die eine Lehrerstelle im verstecktesten Winkel des Landes haben.
Ich glaube, wir haben nicht umsonst die Bank gedrückt. Ich habe neue Seiten in mir entdeckt, den Willen zum Schreiben. Seit einiger Zeit arbeite ich an einem Roman. Ohne Studium und GeMa wäre ich nie auf den Gedanken gekommen.
Es gibt kein Wenn. Ich schreibe. Selbst wenn kein einziges Exemplar gekauft wird. Es ist eine Art Selbsttherapie. Dreißig Jahre Freude und Schmerz aus mir herausschreiben.
Der Zug hält in Budapest und ich eile zu meinem Fahrrad, das angekettet auf mich wartet. Ein Stück Szeged, denn sogar die Gewohnheit des Radelns übertrug ich auf meine Heimatstadt. An der ELTE vorbeifahrend merke ich, dass die trüben Gedanken langsam schwinden, um immer mehr einem „Ich-hab‘s-geschafft-Gefühl“ Platz zu machen.