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Zeitung << 2/2010 << Mauerhasen


Mauerhasen
„Der Film erweiterte die Grenzen des Dokumentarfilms“

Autorin: Dorottya Toldi

Nachdem das Dritte Reich den II. Weltkrieg verloren hatte, war Deutschland von 1949 bis zum 3. Oktober 1990 geteilt. Diese Informationen hören wir in den Geschichtsstunden in der Schule, im Landeskundeseminar an der Uni, diese Tatsachen werden uns im Fernsehen, in den Medien erzählt. Sie sind sehr wichtig, aber es gibt einen anderen Teil der Geschichte, das heißt den alltäglichen Teil, die Gefühle der Menschen, die wir nicht so einfach kennenlernen können.

Ich hatte das Glück einen besonderen Dokumentarfilm von den polnischen Regisseuren Bartek Konopka und Piotr Rosolowski zu finden: Mauerhasen (Królik po berlinsku; Rabbit á la Berlin) lautet der Titel. Die Hasen und die Mauer. Das wird interessant, dachte ich. Der Film handelt wirklich von den Hasen, die in der Gefangenschaft der Berliner Mauer gelebt haben. Nach dem II. Weltkrieg konnten die Hasen keine Nahrung finden, deshalb haben sie es gewagt, sich dem Potsdamer Platz zu nähern. Aber in kurzer Zeit hat sich alles um die Hasen verändert. Eine Mauer wurde zwischen sie und die grünen Plätze gebaut. Soldaten und Hunde haben das neue Bauwerk geschützt. Die Hasen sind viele Kilometer gelaufen, aber es gab kein Ende der Mauer. Sie mussten sich ans Leben zwischen den zwei Mauern gewöhnen. Die Soldaten waren sehr freundlich, sie haben auf die Hasen nicht geschossen, haben für die Tiere auch Gras gesät. Zwischen den Mauern hat sich eine ideale Umgebung ohne Gefahren, ohne Konkurrenz gebildet: „Sie sind geschützt gegen Feinde. Sie sind geschützt gegen Hunde und Katzen. Und sie haben überall Grasinseln. Das ist fast wie ein gut geführter Zoo“, erklärt ein Evolutionsbiologe im Film. Aus West und aus Ost sind Gäste gekommen (wie zum Beispiel Fidel Castro, Jassir Arafat oder Willy Brandt), das Leben der Hasen zu beobachten. Aber wegen des Wohlstands versanken sie nach und nach in Passivität und in Apathie. Sie haben versucht Tunnel unter der Mauer zu bauen. Diese Veränderung haben auch „die Gründer des Felds“ bemerkt, und sie haben einen neuen „Parkaufseher“ gewählt, der mit allen Mitteln die Hasen geschützt hat, das heißt die Lücken der Wand wurden vermauert, die Mauer selbst wurde höher gebaut. „Der Parkaufseher“ hat neue Alarmanlagen geholt, und es gab mehrere Hunde und Soldaten, die Ruhe der Hasen zu schützen. Aber die Hasen haben die Neuerungen nicht geschätzt, sie haben versucht in den Westen zu fliehen, deshalb haben sich die Regeln verändert. Die Soldaten durften auf die Hasen schießen, sie haben das Gras vergiftet. Die schwarzen Tage der Hasen hatten angefangen.
Aber an einem Tag hat sich die Welt der Hasen absolut verändert. Die Mauer ist verschwunden, die Grenzen, die Gefangenschaft hat nicht mehr existiert. Nach dem Fall der Mauer mussten die Hasen lernen, in der freien Welt zu überleben. Sie trafen auf Sachen, die in der Welt anderer Hasen normal sind. Aber auch neue Gefahren sind erschienen.
Die Idee des Films, das Leben von Hasen in einer ungewöhnlichen Situation zu schildern, ist ganz besonders. Zwischen dem Verhalten der Hasen und der Deutschen gibt es Ähnlichkeiten. Die Regisseure wollten anhand des Lebens der Hasen die Schwierigkeiten der Menschen, die Absurdität des Systems erzählen. Die polnischen Filmemacher nennen ihren Film ein dokumentarisches Märchen. Und wirklich gibt es Elemente im Film, die zur Gattung des Dokumentarfilms gehören. Aber auf der anderen Seite ist das Thema so absurd, als wenn es ein Märchen wäre. Die erwähnten Elemente geben dem Film einen Charakter. Im Film erzählen Zeitzeugen, Soldaten, Künstler aus Ost und West. Die Hasen waren das Symbol der Geschlossenheit, der Teilung und der Einsamkeit. Im Osten wurden Kinderfestivals organisiert, wo man mit Flagge mit Hasenmotiven demonstriert hat. Die Bilder des Films sind originale Fotos, Videos. Die „Hauptfiguren“ sind Personen aus der deutschen Geschichte. Aber die Tiere, die Hasen rufen unsere Erinnerungen wach an die Grimm-Geschichten oder an die Tiermärchen von Äsop. Die Geschichte wird aus dem Blickwinkel der Hasen erzählt. Honecker, die erste Person der DDR, wird im Film erwähnt, als „Parkaufseher“.
Ich finde den Film absolut interessant, die Mischung der abstrakten Elemente mit den geschichtlichen Ereignissen ist sehr ungewöhnlich. Dadurch entsteht bei den Zuschauer_innen das Gefühl, dass er etwas Neues ist, auch wenn das Thema bekannt ist. Der Film veröffentlicht überhaupt keine konkreten Informationen aus der Geschichte der Menschen. Wir hören nicht den Namen von Honecker, die Gäste der Hasen (Arafat, Castro usw.) sind nicht benannt. Diese Idee finde ich sehr bewegend: Wenn jemand sich für die Ereignisse interessiert, dann kann er nachlesen. Die Regisseure möchten die Zuschauer_innen nicht mit zahllosen Informationen, Angaben bombardieren, sondern ihr Interesse erregen.
Das Ziel der Regisseure war, einen „Erinnerungsfilm“ über Deutschlands Geschichte zu machen. Sie konnten dieses Ziel erreichen und ein bisschen mehr: Der Film hat auf dem internationalen Dokumentarfilmfestival (HotDocs) den Preis für den besten mittellangen Dokumentarfilm gewonnen und beim 49. Internationalen Filmfestival in Krakau zwei Preise.