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Zeitung << 2/2009 << Im Mittelpunkt steht der Mensch


Im Mittelpunkt steht der Mensch
Anthroposophie von Rudolf Steiner

Autorin: Zsuzsanna Majoros

Ich habe Anthroposophie nicht durch trockene Theorie kennen gelernt, ich habe sie durch meinen Alltag in einer Camphill Einrichtung während meines Freiwilligendienstes in Deutschland erlebt. Mich hat es überrascht, dass sie, anders als andere Theorien, im Alltag lebt und wirkt. Eine Philosophie, die nicht abwesend, unerreichbar und fern ist, sondern menschennah, die man nicht nur aus Büchern lernen kann, sondern die in der Tat existiert. Ein Erkenntnisweg, der kein Glaubensweg ist und sich trotzdem an Lebensfragen orientiert und zur Lebenspraxis entwickelte.

Die Camphill Einrichtungen wurden für behinderte Kinder und Erwachsene gegründet, wo der Alltag dieser Weltanschauung entsprechend und besonders für diese Menschen gestaltet wurden. Der Grundgedanke dieser Einrichtungen ist auf die Hauptfrage dieser Philosophie zurückzuführen. Dementsprechend liegt unser Menschsein in unserer Freiheit, und frei macht das individuelle, selbstständige Schaffen. Jeder Mensch hat wertvolle Fähigkeiten zum Schaffen in sich, mit denen er die Welt bereichern kann. Deswegen soll jedem Kind die Möglichkeit zum Lernen gegeben und dabei sollen auch seine Behinderungen berücksichtigt werden, und jedem behinderten Erwachsenen soll ein Zugang zur sinnvollen Arbeit gegeben werden. Die erste ungarische Camphill Einrichtung öffnete ihre Toren für behinderte Kinder 2007 in Velem.

„Der Sonne Licht, es hellt den Tag…“ Guten Morgen!
Die Anthroposophen lassen den Tag nicht „verloren gehen“. „Herzlich willkommen, wir fangen morgen früh um 6.30 an, wir erwarten dich auch“. Es war der erste Satz, den ich aus dem Mund meiner Hausverantwortlichen hörte. Bei der Morgenbesprechung haben wir immer mit einem Wochenspruch von Rudolf Steiner, der jeden Tag zweimal vorgelesen wurde und von dem man trotzdem nach einer Woche noch immer keine Ahnung hatte, worum es geht, angefangen. Zum Beispiel: „Das Licht aus Weltweiten im Innern lebt es kräftig fort“. Aber der ermutigende Trost als Antwort auf mein verzweifeltes Gesicht kam gleich: „Das verstehen die Deutschen auch nicht“. Die Kinder wurden jeden Tag mit einem auf einer Flöte gespielten (weil Flöte ein Weckinstrument ist) Lied geweckt. Dann kamen die Betreuerinnen ins Zimmer, wo es noch völlig dunkel war, mit einer angezündeten Kerze herein und ohne irgendetwas zu sagen, haben wir zuerst gebetet: „Seh ich die Sonne, dank ich Gottes Geist“.
Nachdem wir auch das letzte Kind aus dem Bett herausgekitzelt, und die Kinder sich gewaschen und angezogen haben, kam der Morgenkreis. Alle Mitarbeiter und Betreuten standen in einem Kreis, und wir haben wir in der gleichen Stunde nun zum dritten Mal gebetet: „Der Sonne Licht, es hellt den Tag“. Trotzdem war es etwas Besonderes. Wir haben nämlich nicht nur mit Wörtern gebetet, sondern auch mit Gebärden und mit Bewegung. Dann wurde gesungen, ein bisschen Gebärdenzeichen geübt, und schließlich haben wir noch einander Guten Morgen gewünscht.
Für das Frühstück, und allgemein für das Essen haben wir uns immer viel Zeit genommen. Die Mahlzeiten hatten ein eigenes Ritual. Das Tischgebet „Erde, die uns dies gebracht, Sonne, die es reif gemacht“ und die „Gesegnete Mahlzeit“ wurden im Chor nach einem bestimmten Rhythmus gesagt. Die Mahlzeit selbst ist auch nach ganz strengen Regeln abgelaufen. Da musste man auf tausend Sachen achten, zum Beispiel auf die Reihenfolge der zu sich genommen Lebensmittel: morgens wird zuerst süß und dann salzig gegessen, weil salzig wach macht, den Geist öffnet und abends eben umgekehrt. Wir achteten auch auf das Tempo der Nahrungsaufnahme, auf die Menge und auf die Kommunikation am Tisch: auf die aufgetauchten Themen, Gesprächsteuerung, Kinder ohne Sprache auch zu Wort kommen zu lassen- durch Gebärden. „Schön essen“ ist ebenfalls wichtig: alle Kinder haben mit Messer und Gabel gegessen.
Am Schluss der Mahlzeit haben wir uns noch bei Gott für das Essen bedankt, und dann kamen die im Haus zu erledigenden Aufgaben: Putzen, Ordnung machen, Bett machen. Selbstverständlich alles mit den Kindern zusammen. Um neun Uhr ging es los in den Kindergarten und in die Schule. Von jedem Kind wurde persönlich Abschied genommen, wie z.B.: „Sei brav, habe viel Spaß in der Schule, ich hole dich Mittag ab“. Dabei mussten die Kinder die Hand reichen und in die Augen der Betreuerin gucken. Das war für die meisten sehr schwierig. Nachdem die Lehrerin die Kinder auch persönlich begrüßt und empfangen hat, konnte es für die Betreuerinnen die höchstersehnte Pause gehen.

„Der Tag hat sich geneiget“ – Ritual „Schließen“
Am Abend hatten wir ein außergewöhnliches Ritual, das Schließen heißt. Der Tag musste immer abgeschlossen werden, damit die Kinder zu Ruhe kommen können, die schlechten Sachen hinter sich lassen, die positiven Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen bewahren und sich für den neuen Tag vorbereiten können. Als Einleitung wurde mit der Leier gespielt, ohne Gesang. Dann kamen die immer gleichen Fragen: Wie war dein Tag? Was war heute das Allerschönste und was war heute doof? Hast du heute etwas Neues gelernt, erfahren oder erlebt? Wer hat dir heute Freude gemacht und wem hast du heute Freude gemacht? Worauf freust du dich morgen? Aus den Antworten hätten auch viele Erwachsene lernen können.
Für mich war es immer etwas ganz besonderes, als ich selbst die Fragen beantworten musste, weil das Kind nicht sprechen konnte oder wollte, aber nicht aus meiner eigenen Sicht, sondern aus der Perspektive des Kindes. Ich halte es für eine ganz nützliche Aufgabe, wenn jemand sich in die Lage eines anderen versetzt, für die Förderung der Empathie. Danach haben wir immer von morgens an besprochen, was am Tag mit den einzelnen Kindern passierte und was am nächsten Tag zu erwarten ist. Es war wichtig, weil manche Kinder keine Erinnerung hatten. Schließlich wurde eine Geschichte vorgelesen und gebetet: „Vom Kopf bis zum Fuß bin ich Gottes Bild“. Im glücklichen Fall konnte die Betreuerin alle Kinder endlich zum Schlafen bringen, die Kerze löschen und endlich sich selbst auch zur Ruhe legen.


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Anthroposophie:
Begründer

Rudolf Steiner (1861-1925) war ein österreichischer Philosoph, Autor, Dramaturg, Lehrer, Naturwissenschaftler und in erster Linie Begründer der Anthroposophie, der Theorie, die ein neues geistiges Menschen- und Weltbild für die Leute bat, die auf der Suche nach einer spirituellen Weltanschauung und Lebensstil im 20. Jahrhundert waren. Eine neue Art von Geisteswissenschaft, die ihre Wurzel in westlicher Kultur hat und christlich geprägt ist.

Bedeutung des Wortes Anthroposophie
Anthroposophie ist ein griechisches Wort mit der wörtlichen Bedeutung ‚die Weisheit des Menschen‘. Aber wie Rudolf Steiner behauptet: „nicht ‚Weisheit vom Menschen‘ ist die richtige Interpretation des Wortes Anthroposophie, sondern ‚Bewusstsein seines Menschentums‘“. Die Hauptfrage der Anthroposophie ist: Was macht den Menschen zum Menschen? Die Theorie von Steiner wurde auf verschiedene Bereiche des Lebens bezogen.
Angewandte Anthroposophie
Im Bereich der Pädagogik wurde in Zusammenarbeit mit Karl König die Waldorf-Pädagogik gegründet, in deren Mittelpunkt die Erziehung zur Freiheit steht. Mit den Worten von Rudolf Steiner ist das Ziel dieser Pädagogik‚ „das Kind in Ehrfurcht aufnehmen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen“. Im Vordergrund steht die gleichberechtigte Förderung von Denken, Fühlen und Wollen aufgrund der Dreigliederung des Menschen.
Im Feld der biologisch-dynamischen Landwirtschaft entwickelte sich eine naturnahe Methode, deren Ziel das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen zu finden ist, wo nicht nur die Erde zu unserem Ernährer wird, sondern wir sie auch ernähren.
Die anthroposophische Medizin hat auch viel Neues ins Leben gerufen. Diese Art von Heilung behandelt nicht die Symptome, sondern die Ursachen und betrachtet den Menschen in seiner Ganzheit mit Seele und Geist zusammen. Zu den Therapien gehören auch Heil-Eurythmie, rhythmische Massage und Kunsttherapie. Die Kunst, insbesondere die Architektur, Dichtung, Malerei, Musik und Bewegungskunst, wurde auch durch diese Theorie geprägt. Die Eurythmie, die sogenannte sehbare Musik und Poesie, eine neue Art von Kunst, verknüpft Farben und Formen und erscheint wie Bewegung.