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Zeitung << 1/2009 << Warum immer die Deutschen?


Warum immer die Deutschen?
Eine Katastrophe in Europa verdeckt die anderen in der Welt

Autorin: Mónika Hevesi

Seit die Kriegsverbrechen der Nazis entdeckt wurden, leistet ein ganzes Volk Buße. Die Schuldigen wurden verurteilt, hingerichtet oder eingekerkert, nach den wenigen noch nicht gefundenen Nazi-Offizieren und anderen Kriegsverbrechern wird gefahndet. In den deutschen Schulen kommt das Thema des Nationalsozialismus immer wieder vor, die Konsequenzen werden so oft wiederholt, dass die Schüler diese nicht mehr hören können. Bücher erscheinen, Denkmäler und Museen werden gebaut, Konferenzen werden veranstaltet, Gedenkfeiern werden begangen. Deutschland tritt der Geschichte des Zweiten Weltkrieges so gegenüber, wie kein anderes Land. Andere Staaten behandeln dieses Problem viel einfacher (und oft weniger direkt): die Rolle der Bevölkerung bei der Deportation der Juden ist zum Beispiel in Ungarn praktisch kein Thema mehr, es wird auch im Unterricht nur oberflächlich behandelt. Inzwischen sind sowohl die Mörder als auch die Überlebenden (Juden, Roma und Sinti, politische Gegner der Nazis und anderen) alt geworden. Man wird einige Jahrzehnte später keine lebenden Augenzeugen mehr finden. Europa beharrt aber mit Zähnen und Klauen darauf, immer wieder über die Gräueltaten der Nazis zu diskutieren, und Deutschland schweigt da zerknirscht.
Sollte man diese Untaten eher vergessen? Bestimmt nicht. Es gibt Ereignisse, die ein Mensch nicht mehr vergessen kann. Es gibt Geschehnisse, die ein Land nicht mehr vergessen darf. Und es gibt Konsequenzen, die die ganze Welt erst nehmen und für immer behalten muss. Ich verurteile jede falsche Generalisierung und jede schädliche Propaganda, die zu Intoleranz, Feindlichkeit oder Gewalt gegenüber den Angehörigen einer ethnischen Gruppe oder einer Religion führen.
Ich verurteile selbstverständlich auch die Nazis. Ich kann aber nicht mehr hören und lesen, dass Europa immer wieder nur vom Zweiten Weltkrieg spricht. Warum? Denn ich fühle oft, dass es nur eine Ausrede ist, nur ein Schleier, damit die blutigen Konflikte der jüngsten Vergangenheit verhüllt werden. Es ist ja viel einfacher ein neues Museum zu bauen, als Soldaten nach Ruanda zu schicken, oder, wenn sie schon da sind, einzusetzen und damit einen neuen Völkermord zu verhindern. „Die Nazis haben Sechs Million unschuldige Menschen getötet, aber so was kann nicht mehr vorkommen.“ Nicht mehr? Genozide, „ethnische Reinigungen“ kamen auch in den neunziger Jahren vor! Und was haben da die „Verteidiger der Gerechtigkeit“ getan? Praktisch nichts.

Völkermord in Ruanda
Vor einigen Jahren habe ich einen Film mit dem Titel „Hotel Ruanda“ gesehen. Er handelt vom Völkermord in Ruanda 1994. Ich wusste davon früher gar nichts, der Film hat mich also schockiert und tief berührt. Als alle diese Grausamkeiten geschahen, war ich erst acht Jahre alt, und meine Eltern ließen mich nicht blutige Szenen in der Tagesschau sehen. Und in der Schule haben das meine Geschichtslehrer auch nicht erwähnt. Für die jüngste Vergangenheit hatten wir am Ende des Schuljahrs meistens keine Zeit mehr. Was ist 1994 in Ruanda passiert? In diesem Land leben drei Ethnien: die Tutsi, die Hutu und die Twa (sie sind Jäger und Sammler, und bilden eine sehr kleine Gruppe). Die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi wurde von den deutschen und belgischen Kolonialherren manifestiert. Diese Teilung war ethnologisch fragwürdig, das Kriterium war der Umfang des Rinderbesitzes.
Die Tutsi waren eher Hirten, und sie hatten mehr Besitz als die Hutu, die vor allem Bauern waren. Diese Klassen waren aber nicht geschlossen, damit sie keine Spannung verursachten. Die Lage veränderte sich mit den Zeugnissen, die man von den belgischen Kolonialherren bekam: in diesen wurden die früher benannten drei Klassen der Bevölkerung festgelegt, Mobilität war nicht mehr möglich. Es diente den Interessen der Belgier: sie brauchten eine einheimische Elite, die die anderen zwei Volksgruppen (dem Willen der Kolonialherren nach) regieren konnte. Diese Elite wurde die Tutsi-Minderheit.
Später, als Ruanda und Burundi (das praktisch über die gleiche Bevölkerung verfügt) in den sechziger Jahren freie Länder wurden, wurden die Gegensätze zwischen den Tutsi und Hutu gefährlich scharf. Diese führten immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen, so dass mehrere Schübe von Flüchtlingen (Hutu und Tutsi abwechselnd) ihre Heimat verlassen mussten, und zwischen den zwei Ländern und den benachbarten Staaten wanderten.
Vom 6. April bis Mitte Juli 1994 geschah in Ruanda der größte Völkermord seit dem Zweiten Weltkrieg: Hutu Extremisten töteten systematisch mehr als eine halbe Million Tutsi und moderate Hutu, die sich an dem Genozid nicht beteiligten oder etwas dagegen tun wollten. Unter den wenigen Angehörigen der Twa waren sowohl Opfer als auch Verbrecher. Die europäischen und amerikanischen Touristen und Journalisten konnten das Land wie gewöhnlich schnell und in Sicherheit verlassen. Die Truppen der Vereinigten Nationen (UNO) waren untätig, die europäischen und amerikanischen Medien berichteten über die Gräueltaten der Hutu einsilbig und zum Teil verhüllend.

Völkermord in Jugoslawien
Man könnte sagen, das passierte in Afrika, damit habe man nichts zu tun. Zu dieser Zeit geschah aber so etwas auch in Südeuropa, und das liegt nicht mehr so weit. 1991 begann der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, als der große Vielvölkerstaat sich auflöste. Slowenien, eine der Teilrepubliken erklärte ihre Unabhängigkeit, dann begannen die Unruhen auch in Kroatien. Die erbitterten Kämpfe dauerten bis 1995. Ein großer Teil der Bevölkerung – je nach ethnischer Zugehörigkeit – wurde entweder von serbischer oder kroatischer Seite vertrieben.
Parallel zu diesen Geschehnissen wuchsen in den Jahren 1990 und 1991 auch die Spannungen zwischen den Ethnien in Bosnien und Herzegowina. Die Bevölkerung bestand nämlich aus Serben, Kroaten und Bosniaken. Die erste Ethnie wollte in der jugoslawischen Föderation bleiben und unterstützte einen engen Verbund mit Serbien, während die muslimischen Bosnier für die Trennung waren, um einen unabhängigen Staat bilden zu können. Die Kroaten im westlichen Teil von Herzegowina wollten sich an Kroatien anschließen. Anfang März 1992 verkündeten die Bosniaken die Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina, und die Serben antworteten darauf mit der Ausrufung einer bosnisch-serbischen Republik, zu dem auch der Staat der Bosniaken gehören sollte. Danach begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen allen drei großen Volksgruppen und die „ethnischen Säuberungen“.
Der Name der Stadt Srebrenica, deren muslimische Bewohner die ganze mohammedanische Gemeinschaft von Bosnien symbolisieren, wurde Juli 1995 wegen einer Untat in ganz Europa bekannt.
Bosnische Serben eroberten das bosniakische Gebiet unter Führung des Generals Ratko Mladic. Sie versammelten und ermordeten im Massaker von Srebrenica alle muslimischen Männer und Jungen, die sie in der Gegend der Stadt greifen konnten. Auch Frauen, Alte und Kinder, Familienmitglieder der verschleppten Männer, wurden getötet. Eine Vielzahl der am Leben gelassenen Frauen wurde von den brutalen Leuten von Mladiæ vergewaltigt. Mehr als achttausend Menschen verschwanden oder starben. Die Gegend von Srebrenica war damals die Schutzzone der Vereinten Nationen, etwa vierhundert bewaffnete niederländische Soldaten hielten sich dort auf. Sie taten aber nichts gegen den Völkermord. Ihre Rolle ist bis heute umstritten.
Die in dem Zweiten Weltkrieg getöteten Gefangenen ließen nicht nur Anklage hinter sich, sondern auch eine Warnung für die Zukunft: ihr Schicksal darf nicht mehr wiederholt werden. Die westlichen Völker dürfen nicht mehr zulassen, dass irgendwo in der Welt so was passiert. Keine Museen, keine Bücher, keine Denkmäler geben das Leben der Ermordeten zurück. Nein, das Leben ist einmalig. Man soll es verteidigen, bewahren, oder es geht für ewig verloren. Das schönste Memento für die Opfer von Gestern wäre die Rettung der Wehrlosen von Heute. In Europa, in Afrika, überall auf der Welt.