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Zeitung << 1/2009 << Ostalgie


Ostalgie
Die westliche „Terra incognita”-Tour

Autorin: Anita Romsics

„Papa, könntest du mir über die 70er erzählen? Beziehungsweise über die ehemalige DDR? BRD? Und so weiter?” – fing ich absolut in medias res das Telefongespräch mit meinem Vater an. Am Anfang hatte er nicht so viel Lust auf dieses Thema, aber mit der Zeit strömten die Anekdoten nur so, und er hat sehr lange erzählt, erzählt und erzählt. Es war nicht unbedingt „Nostalgie”, sondern wortwörtlich „Ostalgie”.
Dieser Artikel ist fiktiv, aber einige Elemente habe ich von der Realität geliehen. Mit den Figuren, mit der damals herrschenden Atmosphäre kann man sich leicht identifizieren. In dieser Form wollte ich mich bei dieser verschwundenen Welt bedanken. Als „Quelle” habe ich den Erlebnisbericht meines Vaters sowie das ungarische Werk von Imre Tatár: „Így láttam az NSZK-t” (Ich habe die BRD so gesehen) (Budapest: Kossuth Könyvkiadó 1978) benutzt.
Ein motivierter junger Mann streichelt seinen Bart und schüttelt seine langen, struppigen Haare. Seine Jeans, die er als Schmuggelware gekauft hat, ist schon ein bisschen dreckig, aber es geht noch. Er geht selbstbewusst zum Bahnhof. Morgen wird er schon Westluft atmen, das gibt ihm Energie.
Die Erlaubnis vom Amt hat er nur schwer bekommen. Trotzdem hat er es geschafft, er gehört zu den Auserwählten, die in die BRD fahren dürfen. In der DDR war er schon mehrmals, er hat relativ viele Ossi-Bekannte und sehr schöne Erinnerungen an die blonden Genossinnen. Aber die BRD wird sicher etwas anders, die Ossis träumen auch immer davon. Es gibt mehrere Legenden über diese „Terra Incognita”, wahrscheinlich weil sie unerreichbar ist. Coca-Cola, Beatmusik, Sexshops. Er hat direkt wegen der West-Reise ein Buch gekauft, mit dem Titel „Így láttam az NSZK-t”.
Während der Reise zählt er sein erspartes Geld. Tja, etwa 5 Forint kostet eine Ostmark und 15 Forint eine Westmark. Wenn er das Bier in einem Geschäft kaufen würde, dann ist es billiger als eine Mark. Die Erlaubnis gilt für 14 Tage, bei seiner Unterkunft kann er sparen, auf dem Bahnhof pennen, es ist doch nicht so tragisch, es geht manchmal. Dann wie viel Bier ist das? Hmm… Aber wenn er endlich in Hamburg ist, dann muss er unbedingt das Nachtleben kennen lernen und die echten Wessi-Mädchen. Dann kann er vielleicht beim Essen sparen, Bier ist sowieso flüssiges Brot.
Er kann nicht schlafen, weil er zu aufgeregt ist. Ein Kumpel von seinem Kumpel hat von jemandem gehört, dass die Flucht auch nicht so schwer ist. Dieser Bekannte hat versucht in der BRD zu bleiben. Am Anfang hat er ein Jöbchen, das heißt Schwarzarbeit, gefunden, aber mit der Zeit lohnte es sich nicht mehr, dann kam er zurück nach Ungarn. Die Strafe war minimal, erst zwei Jahre, aber durch Sozialarbeit war es weniger, nur anderthalb Jahre. Also, es lohnte sich. Und es gibt immer positive Geschichten, die mit einem „Happy End” enden. Er hat auch Bekannte, die in der Westzone glücklich leben. Erst langsam und mühsam, aber am Ende haben sie Geld verdient. Jetzt leben sie wie die Könige. Ungarn ist sowieso stressig heutzutage, zu viel Politik, das mochte er nie. Und die rote Farbe assoziiert er nicht unbedingt mit der Liebe. Warum klagt er? Die 70er sind nicht mehr so schlimm wie die 60er Jahre waren. Es herrscht nicht mehr die absolute Kontrolle und Retorsion. Trotzdem lockt die westliche Welt die Jugendlichen, und es ist schon fast Mode geworden, dass sie mindestens einmal in den Westen fahren-fliehen wollen.
Er wachte auf. Er hat nur geträumt, statt in Hamburg ist er in Karl-Marx-Stadt. Die Reise stimmt – nur die Richtung nicht. Er wollte nur in die BRD, trotzdem hat er das nie verwirklicht. Das Buch über die BRD hat er aber wirklich gekauft.