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Zeitung << 2/2008 << Das Stück war treffend wie Tells Pfeil


Das Stück war treffend wie Tells Pfeil
Wilhelm Tell und Gilberte de Courgenay

Autorin: Anita Romsics

Kunst und in diesem Fall Theater steigert das Nationalbewusstsein. Ich konnte nicht verstehen, wieso und warum diese zwei Stücke so eine voluminöse Rolle für die Schweizer spielen. Ich hatte die Möglichkeit, auch ein bisschen dieses Nationalgefühl zu erleben. Schon am 1. August, an dem Schweizer Nationaltag: dieses Fest ist etwa ähnlich wie bei uns, nur in der Superlativus-Form. Dieses Volk ist irgendwie fanatisch in diesem Sinne. Im Luzerner Tagesblatt habe ich Folgendes gelesen: „Das Stück war treffend wie Tells Pfeil, Prominente feierten die Premiere von Volker Hesses Wilhelm Tell...der Stoff gehört hierher, 20. August comeback Tell, sehr SPEZIELL in Uri…”.
Tipps und Kritiken überall, Schauspieler, Regisseure und natürlich selbst die Zuschauer waren begeistert von dem Nationaldrama. Selbst die Geschichte und die originelle Buredütsch-Sprache geben eine gewisse Stimmung, verstärkt durch das ohnehin große Nationalgefühl der Schweizer. Es gab schon Tausende von Theaterstücken nach den Spuren von Schiller, aber in diesem Fall wollte der Regisseur, Volker Hesse ein rebellierendes und auffallendes Stück schaffen. Kostüme und selbst die Handlung wurden reformiert, die ursprünglichen bürgerlichen Szenen wurden „eingebauert“, die ländliche Seite wurde betont. Zum Beispiel statt Pferden können wir Traktoren sehen, und statt der „Strumpfhosen-Kostüme“ können wir Kopftücher bewundern.
Volk ist doch Volk, hauptsächlich unterdrückt und rechtlos. Es war genug des Ausnutzens und der Not. Es ist Zeit zum Handeln. Tyrannenhass hat alle anderen menschlichen Werte und Gefühle ausge­rottet. Das Volk will die Unabhängigkeit erreichen und die deutschen Tyrannen vergessen. Und dann kam ein Mann, namens Tell, der als Nationalsymbol in den Gedanken der Menschen weiterlebt. Die klassische Szene mit dem Apfel bleibt natürlich. Diese Szene zu reformieren ist „verboten“, nach der Meinung von Hesse. Warum? Ein ganzer Legendenkreis verknüpft dazu, Landesspiele, Wettbewerbe, mehrere fantasiereiche Interpretationen wachsen weiter an: Wilhelm, tell me, Fribourger Rockoper (auch eine moderne Version), Der grüne Heinrich von Gottfried Keller (trotz des Titels handelt es sich auch um die ländlichen Tell-Spiele), Wilhelm Tell für die Schule von Max Frisch (eine Parodie von der ursprünglichen Legende, die aus dem 15. Jahrhundert stammt). Aber die Schweizer warten seit Jahrzehnten auf diese Version, die wirklich als National­drama wirkt, und gerade in dem Urkanton Uri, wo der größte Teil des Stückes spielt. Die andere wichtige Szene spielt auf dem „Rütli“ in dem Urkanton Schwyz, wo die Staatsgründung geschah, wo das Phänomen homo alpinus helveticus geboren worden ist. Schillers Nationalhelden wurden profanisiert. Der Druck wegen Gesslers Provokation dominiert nicht mehr das Ich beziehungsweise die allgemeine Rolle der Familie, sondern das Kollektiv wird am wichtigsten. Alle anderen Werte bekommen nur eine Nebenrolle. Die Apfel-Szene ist natürlich nur symbolisch, aber trotzdem dominierend: Walter, der Sohn von Wilhelm Tell zittert vor Angst, aber der „Bureheld“ macht doch nie Fehler beim Pfeilschießen. In diesem Fall auch nicht. Nur das Risiko, das war doch dabei, er hat mit dem Leben seines eigenen Sohnes gespielt. In Altdorf gibt es das berühmte Denkmal: Wilhelm Tell und sein Apfel. Aber noch weitere kleinere Denkmäler und Statuen beweisen die Legende von Tell. Selbstverständlich in der Umgebung, fast in der ganzen Zentralschweiz nennt man fast alle Kneipen, Restaurants und Hotels „Tell“. Die Reste sind natürlich die bekannten „Rösslis“(Ross) und „Hüslis“ (Chalet). Die Schweizer Fantasie ist bei der Namensgebung leider begrenzt.
Gilberte de Courgenay, das Drama von Rudolf Bolo Maeglin ist vielleicht vielen unbekannt. Mir ging es auch so, und zuerst habe ich nur zufällig ein paar Minuten von der Hauptprobe im Freilichttheater in Kriens-Luzern erwischt. Aber die Schweizer haben es extra betont, dass Rudolf Bolo Maeglin und sein Drama Gilberte de Courgenay mindestens so berühmt wie Mutter Courage von Bertold Brecht seien, und mindestens so voll mit Nationalgefühl wie das Drama von Schiller. Man kann sagen, dass Gilberte die Schweizer Mutter Courage ist. Es stimmt zum Teil, die Handlung hat auch mehrere Parallelen, die verschiedenen literarischen Charaktere und die Popularität sind wirklich mindestens so groß wie von Mutter Courage. Im Mittelpunkt steht eine starke Frau, und die Soldaten sind begeistert von ihr. Es handelt sich um den Glanz und das Elend der Gilberte, die Geschichte spielt im ersten Weltkrieg. Es ist also praktisch eine spätere Ausgabe von der bekannten Mutter-Courage-Geschichte. Am besten lernt man die Dramen nicht aus „second hand“ kennen. Wenn man keine Zeit zum Lesen hat, kann man das Theater vorschlagen. Diese zwei Dramen sind immer Schlager in der Schweiz, im schlimmsten Fall muss man hinfahren, um etwas Kultur zu erleben.
Diese zwei Dramen werden oft im Theater gespielt und im Sommer auch in den sehr beliebten Freilichttheatern in der Schweiz. Fast alle kleineren Städte haben ein eigenes Freilichttheater. Die Eintrittskarten sind teuer, aber auf jeden Fall ist es ein Erlebnis, auf Buredütsch etwas zu hören und zu schauen.