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Zeitung << 1/2008 << Germanistik an der Humboldt-Universität
Germanistik an der Humboldt-Universität
Bericht über einen Erasmus-Aufenthalt in Berlin
Autorin: Annamária Széll
Der lange Weg nach Berlin
Von Anfang an wollte ich unbedingt nach Berlin. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich im ersten Studienjahr mein erstes Referat gehalten habe. In einem Seminar bei Tamás Kispál sollte ich begründen, warum es in meinem Referat um Berlin ging. Ganz stolz sagte ich: „Einmal möchte ich an der Universität Humboldt in Berlin studieren.” Der Seminarleiter akzeptierte meine Antwort mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln. 2003 konnten die Germanistikstudenten an der Universität Szeged im Rahmen des Erasmus-Stipendiums ausschließlich nach Regensburg fahren. Kein Wunder, dass es ein bisschen unwahrscheinlich schien, dass ich einmal in Berlin studieren würde. Seitdem sind fünf Jahre vergangen. In den letzten Jahren haben sich die Möglichkeiten erweitert. Heute können die Szegeder Germanistikstudenten mit Erasmus auch schon nach Berlin fahren.
Am Anfang meines vierten Studienjahres habe ich 2006 erfahren, dass man sich seit einem Jahr auch um Studienplätze in Berlin bewerben kann. Ich wusste, dass es meine letzte Chance wäre, während meines Szegeder Germanistikstudiums in Deutschland zu studieren. Ich erinnerte mich noch an meine kühne Aussage in dem Seminar fünf Jahre davor. Dazu kam noch die Tatsache, dass ich schon im vierten Studienjahr war und bis dahin keine längere Zeit im deutschsprachigen Raum verbracht hatte. Mag man auch seit fünfzehn Jahren, wie ich, Deutsch lernen, trotzdem kann man die Sprache ohne einen mehrmonatigen Auslandsaufenthalt nie vollständig erlernen, das wissen wir alle. Diese Argumente waren zu jener Zeit die wichtigsten für mich. Ich dachte noch nicht daran, wie viele andere Vorteile ein Erasmus-Stipendium eigentlich hat.
Im Februar 2007 habe ich mich um ein Erasmus-Stipendium beworben. Ich sollte einen Studienplan anfertigen und einen Lebenslauf einreichen. Es gab aber nur zwei Plätze in Berlin und dazu fünf Bewerber. Wir mussten uns also auch einer mündlichen Bewerbung unterziehen. Das war nicht so schrecklich wie es vielleicht klingen mag. Und endlich, ich hatte den Studienplatz! Es war unglaublich, mein Name stand auf einem kleinen, weißen Blatt und dies bedeutete, dass ich nach Berlin fahren kann.
Dann begann die Administration, die für mich die größte Qual bedeutete. Ich habe alle möglichen Papiere falsch ausgefüllt. Ich schreibe im Folgenden lieber nicht über diesen ganzen Papierkram. Aber auch deshalb war es zum Beispiel im August noch unsicher, ob ich einen Platz in einem Wohnheim bekommen würde. Man soll aber die Hoffnung nie verlieren. Am Ende hat es dann doch geklappt und ich konnte zwei wunderbare Leute kennen lernen: Elisabeth, eine polnische und Astrid, eine deutsche Studentin. Sie waren nämlich meine Mitbewohnerinnen im Wohnheim, das sich in der „Allee der Kosmonauten“ befand. Der Name ist vielsagend. Ja, das Wohnheim ist in Ost-Berlin.
Endlich in Berlin
Am 5. Oktober 2007 immatrikulierte ich mich an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Das Hauptgebäude und seine Lage, Unter den Linden, waren beeindruckend. Ich war wirklich berührt. Nicht nur das Gebäude der Universität war bewundernswert, riesig und großartig, sondern auch ihre Professoren. Am 16. Oktober hat die schwerere Seite der Sache begonnen. In der ersten Woche schien es mir unmöglich, einen Kurs zu absolvieren. Nicht nur das Niveau war wesentlich höher als zu Hause, was völlig normal ist (in Berlin studieren Muttersprachler ihre eigene Literatur und Linguistik), sondern auch das System war dort fremd und ungewöhnlich für mich. Man sollte sich daran gewöhnen. Nicht die Menge der zu erlernenden Materialien zählte zum Beispiel, sondern nur das logische Denken. An der HU fragt man nicht nach Fakten und Daten, die findet man im Lexikon und im Internet. Nein, hier sollte man denken, denken und denken und sich immer sehr fleißig auf die Seminare vorbereiten.
Man denkt oft, die Erasmus-Studenten würden ständig Partys machen. Das gilt nicht für Berlin. All die Erasmusstudenten, die an der HU Germanistik studierten, waren unter Druck. Sie wussten nicht, wie sie zum Beispiel zwei Seminararbeiten in einem Semester (Umfang 25 Seiten) schreiben würden. Die Studien waren hart, aber sehr nützlich. Man wurde mit den neuesten Auffassungen, Gedanken, Denkern der heutigen europäischen Wissenschaft konfrontiert. Eine andere Arbeitsmoral habe ich kennen gelernt. Die Studenten waren völlig motiviert und bereiteten sich immer sehr enthusiastisch auf die Seminare vor. Sie führten in den Seminaren heftige Diskussionen miteinander. Aber sie respektierten einander immer dabei.
Deutsche Literatur in Berlin studieren
Die Vorlesung Das Drama des 18. Jahrhunderts bei Herrn Osterkamp war jede Woche ein echtes Erlebnis. In seinen Vorlesungen haben wir nicht nur viele interessante Aspekte des Themas kennengelernt, er akzentuierte nämlich immer die Vorbildhaftigkeit seiner Dramenhelden. So waren wir am Ende seiner Vorlesungen immer in einer etwas erhöhten Stimmung, mit mehr Menschenliebe im Herzen.
Die größte Herausforderung und einige unruhige Nächte bedeutete mir das Seminar von Joseph Vogl mit dem Titel Das Wissen der Wahlverwandtschaften. Herr Vogl ist ein echtes Genie. Seine Studenten sprechen oft von ihm wie von einem kleinen Gott. Deshalb haben nur ganz wenige den Mut, seine Seminare zu belegen. Als ich dieses Seminar wählte, hatte ich keine Ahnung davon, doch das Thema interessierte mich sehr. Bald wurde mir klar, wie hoch da das Niveau ist. Ich muss gestehen, dass ich manchmal nur da saß, ohne ein Wort zu verstehen. Manchmal war ich total verzweifelt, aber glücklicherweise bin ich nicht der Typ, der gleich am Anfang aufgibt. Ich habe mich immer sehr gründlich auf die Seminare vorbereitet und oft mit den Kommilitonen über unsere Themen diskutiert. So wagte ich auch manchmal während des Seminars meine Meinung zu äußern. (Nur nebenbei: viele Deutsche haben das nicht getan.) In diesem Seminar kam ich zum ersten Mal mit der Philosophie von Gilles Deleuze in Kontakt. Kein Wunder, Herr Vogl ist ja sein deutscher Übersetzer. Anhand der Deleuzeschen Philosophie des Ereignisses versuchten wir Goethes Roman zu enträtseln. Wir haben noch viele verschiedene Theorien angewandt. Sie wurden aber nie erklärt. Es war selbstverständlich, dass die Studenten diese Theorien oder mindestens ihre Grundbegriffe kennen. Dieses Seminar beeindruckte mich so sehr, dass ich meine Diplomarbeit auch über Goethes Wahlverwandtschaften geschrieben habe.
In Berlin gibt es sehr gute Bibliotheken. Man kann nicht nur die Zentralbibliothek der HU und ihre Zweigbibliotheken benutzen. Die Staatsbibliothek zu Berlin (StaBi) ist auch ein echtes Erlebnis. Das System der Entleihung ist in der StaBi sehr kompliziert, aber man muss es nur einmal lernen, dann geht alles sehr leicht und schnell.
Ich habe auch ein Schubert-Seminar bei Andrea Polaschegg mit dem Titel Magnetisierte Poesie besucht. Es war auch hochinteressant. Das Niveau war ein bisschen niedriger, es war ja ein Bachelorseminar. Hier konnte ich die Kenntnisse, die ich in der Romantik-Vorlesung von Márta Baróti-Gaál in Szeged erworben hatte, sehr gut verwenden. Auch die frühere Teilnahme an den Seminaren unserer Szegeder Dozentin Erzsébet Szabó bedeutete in Berlin einen großen Vorteil. Man konnte feststellen, dass die deutschen Studenten zwar alle bedeutenden Theorien der Literaturwissenschaft kennen, trotzdem wesentlich weniger als die ungarischen Studenten lesen.
Ich könnte einen ganzen Roman mit den Berliner Erfahrungen und Erlebnissen füllen. Mein Bericht ist längst nicht vollständig. Ich habe noch gar nicht über die sehr langsam auftauenden deutschen Kommilitonen geschrieben oder die langen Spaziergänge in den Berliner Straßen, auch nicht über die Staatsoper, das Berliner Ensemble, das neue Collegium Hungaricum, die Weihnachtsmärkte, die Russendisko, das Café Burger, Boris’ Feuerzangenbowle, die Multi-Kulti der Stadt, die Straßenbahnen, die Berliner Schnauze, die Freundschaften und so weiter. Berlin ist wunderbar.
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