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Zeitung << 1/2008 << Der Gnadenstoß für die Konsumgesellschaft


Der Gnadenstoß für die Konsumgesellschaft
Michael Hanekes Wolfzeit

Autor: Dániel Lipták

Der österreichische Regisseur des skandalösen Gewaltmärchens Funny Games (1997) und der elegant erbarmungslosen Verfilmung von Jelineks Klavierspielerin (2001) ist eine der schwerwiegendsten Figuren des neueren europäischen Filmes. Mit Wolfzeit (2003) schafft er eine finstere Vision über die Nachtseite der menschlichen Gesellschaft.

Eine Familie kommt an ihrem Wochenendhaus an, wo sie erfahren, dass es von einer anderen Familie besetzt worden ist. Die Eindringlinge erschießen den Vater und berauben Mutter und Kinder ihrer Lebensmittelvorräte. Sie müssen die ganze Nacht und die folgenden Tage auf dem Lande wandern, in einer Welt, wo plötzlich alle gesellschaftlichen Institutionen verlorengegangen sind – wo sich ein jeder nur auf sich selbst verlassen kann. Keine Stützpunkte, kein Trost, keine sympathischen Figuren. Und weiter passiert nicht viel.
Diesen Film kann man kaum allgemeinen Zuschauergewohnheiten nach „genießen”, sein Zweck ist vielmehr eine Distanzierung von der alltäglichen Gefühlswelt. Und gegenüber dem biederen Anständigkeitsgefühl scheint Haneke immer zu kämpfen, indem er seine Gedankenexperimente kühl und rücksichtslos durchführt. Die Frage ist, worauf das Experiment in Wolfzeit hinweisen will.
Man nehme einen Notfall (näher wird er gar nicht erklärt), wo all die Strukturen und Regeln zugrunde gehen, die uns umgeben und am eigenen Platz halten. Kein Zuhause, kein Staat, keine Arbeit. Es bleiben nur die Menschen. Was machen sie dann? Was bleibt von den Menschen übrig? Die Präsenz der Einwanderer weist darauf hin, dass so ein Leben in vielen Teilen der Welt als Alltagserlebnis gilt, auch wenn es uns schockiert, sobald es um Europa geht. Der Untergang des Abendlandes a la Haneke folgt logisch vom Wesen der Konsumgesellschaft. Die Kommunikationsunmöglichkeit, die im Film Code Unbekannt (2000) als das zentrale Motiv unseres Gesellschaftslebens dargestellt wurde, ist hier in einen Extremfall überführt, indem die Gesellschaft sich liquidiert. Ursachen gibt es keine.
Was darauf folgt, ist eine Art neues Mittelalter, und der sogenannte postmoderne Mensch wird plötzlich zum prämodernen. Die Leute verlassen die Stadt, sie versuchen auf dem Lande Zuflucht zu finden, oder scharen sich im öden Bahnhofsgebäude zusammen. Hier ist das Menschenwesen auf Sorgen des Überlebens und gemeinsame Langeweile reduziert. Es herrscht das Weinen der Säuglinge und das Geschrei der Erwachsenen. Man ist auf eine neue Ritterklasse angewiesen, die über Wasser, Nahrung und Waffen verfügt. Medien und Ideologien sind verschwunden, und neue Mythen entstehen in der sich langsam aufbauenden Gemeinschaft erst später. Zum Nachdenken oder zur menschlichen Kommunikation scheinen die Meisten keine Zeit und keinen Anspruch zu haben.
Allein die Teenager Eva sucht Verbindungen mit einem einsamen Jungen, wie auch mit dem toten Vater. Sie übt eine Art intimen Totenkult aus: sie schreibt dem Vater Briefe im Büro des Bahnhofes, in ihrem geheimen Scriptorium, wo sie Papier, Stift und Bilder findet – Überbleibsel einer vergessenen Kultur. An der Wand sieht sie neben Urlaubsfotos und erotischen Magazinbildern eine sonderbare kleine Kunstreproduktion, die zweimal in die Sicht der Kamera kommt. Da der Film übrigens sehr arm an kulturellen Anspielungen ist, kommt diesem Bild eine auffallende Rolle zu.
Es ist die Reproduktion der berühmten Skizze und Beschreibung eines Alptraumes von Albrecht Dürer. Nach Pfingsten 1525, unter den beängstigenden Ereignissen des Deutschen Bauernkrieges träumt Dürer von einer neuen Sintflut, und sieht „wy fill großer wassern vom himmell fillen […] mit einem ubergroßem raüschn und zersprützn und ertrenckett das gantz lant.” Die Prophezeiung des Apokalypsenmalers scheint sich in der Filmwelt zu bewahrheiten. Eine tödliche Flut ist es, was Eva erlebt – ein sich verbreitender Wahnsinn ohne Erklärung, das von domestizierten Gesellschaftswesen wilde Wölfe macht. Oder ist dieser Wahnsinn eigentlich der Naturzustand?
Homo homini lupus est – der Mensch ist dem Mensch ein Wolf. Haneke scheint den anthropologischen Pessimismus von Thomas Hobbes zu teilen. Er sieht den Werwolf auch unter dem zivilisierten Schafspelz, aber in diesem Film legt er ihn offen. Schockierend wirkt jedoch nicht die Darstellung von Gewalt, sondern das Wissen von ihrer Möglichkeit – die trostlose Ausgeliefertheit und die trostlose Monotonie des nackten Menschenlebens.
Monoton ist der Film auf jeden Fall. Den finsteren Aussichten und dem ziellosen Treiben der unglücklichen Familie entspricht das unbarmherzige Schwarz der Nachtszenen, die einen großen Teil des Filmes ausmachen, wie auch der Mangel an narrativen und dramaturgischen Zusammenhängen. Je nach Einstellung kann man dies als kapitalen Fehler oder als radikalen Zug interpretieren. Das Ergebnis ist ein niederdrückender, ja frustrierender Film, der uns weder mit philosophisch-psychologischem Reichtum, noch mit klugen Aussagen, narrativer Meisterschaft, dramaturgischer Raffiniertheit oder schönen Bildern entschädigt. Ob etwas übrigbleibt, oder ob wir zum Nihil gelangt sind, darüber kann der erschöpfte Zuschauer selbst entscheiden.
Doch das Vakuum an Stelle des Sinns muss irgendwie ausgefüllt werden. Nach dem Untergang alten Glaubens keimen immer neue auf. Der krankhafte Sohn Benny profiliert sich in der Schlussszene als Mystiker, indem er durch seinen Feuertod die Welt erlösen will. Ein Mann hält den nackten Knaben von der radikalen Tat zurück, und versucht ihn auf die banalste Weise zu beruhigen: „Alles wird gut!” Ist Bennys mystisches Fieber ein Symptom des Nervenzusammenbruchs oder ein Funken der Metaphysik, der Menschenwürde in einer bis zum Äußersten entleerten Welt? Bedeuten die apokalyptischen Visionen, wie etwa Dürers Traum, oder Hanekes Wolfzeit, einen Trost der sich verwirklichenden Apokalypse gegenüber? Bedeuten sie eigentlich irgendwas? Da die Schlussszene (wie manche andere Szene) des Films ziemlich schwach ausgearbeitet ist, bekommen wir von Haneke keine Antwort auf solche Fragen.