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Zeitung << 1/2008 << „Wer weiß, ob wir morgen noch ’s Leben haben… So komm!”


„Wer weiß, ob wir morgen noch ’s Leben haben… So komm!”
Arthur Schnitzler: Reigen

Autorin: Anita Ráczné Romsics

In der letzten Prüfungszeit hatte ich eine Weltliteratur-Prüfung im Rahmen der Hungarologie. Ich habe sehr „streng” gelernt und nur zufällig etwas Interessantes im Buch „Világirodalom” gefunden. Im Zusammenhang mit Sigmund Freud bin ich noch auf weitere Namen und Titel im Register gestoßen, so bin ich auf die Idee gekommen, dass ich dieses Werk von Schnitzler noch unbedingt in derselben Prüfungszeit lesen wollte. Endlich so ein Werk, wo unsere Phantasie fliegen kann, ohne Hemmungen, ohne Klischees… das brauchte ich damals in der Prüfungszeit. Ich vertiefte mich in meinen Gedanken, ich habe ein bisschen darüber nachgedacht: Ja, ein typisches Beispiel für amüsierende Analyse oder gerade umgekehrt, für analysierendes Amüsieren, anders gesagt: „Zaubergetränk” oder „Gewürz” zum Alltagsleben.

Dieses Werk von Schnitzler ist ein erotisch-soziologisches Spiel. Selbst der Titel „Reigen” symbolisiert einen Tanz, fast wie ein Todestanz, einen Walzer mit dem Teufel, mit den Sünden oder nur ganz einfach, wenn man die Grenzen der Gesellschaft beziehungsweise die Grenzen der untergedrückten Süchte vergessen kann.
Den Einfluss von Sigmund Freud kann man am „Reigen” gut erkennen. Modernität wird mit Psychoanalyse gemischt. Die neue Methode, die um die Jahrhundertwende begriffen wird, inspirierte viele Autoren, und es ist heutzutage noch immer populär. Gier nach dem Verständnis unserer Dränge, Traumsymbolik, Körpersprache oder selbst die Sexualität, die früher nur ein Tabu war… diese Phänomene waren unakzeptabel in der damaligen Zeit. Über diese „skandalösen” Dinge würde ein „Niemand” der Gegenwart heute nur lächeln. Sonst darf man nicht vergessen, dass die Welt verkehrt ist. „Schnitzlers Welt” ist schon vorbei, die Stimmung des Fin de Siécle ist auch vorbei, trotzdem haben wir etwas geerbt. Schnitzler „spielt” mit erotischen Monologen und Dialogen. Erotik bleibt in diesem Fall wortwörtlich nur Erotik, auf keinen Fall reine Sexualität. Die Akt wird immer im letzten Moment abgebrochen, es wird nur ganz einfach mit dem Symbol „-----“ gezeichnet. Wenn es weitergeht, dann wird es doppelt markiert. Manchmal sieht es schon witzig aus, hier muss die Phantasie fleißig arbeiten.
Die verschiedenen Charaktere stammen aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, trotzdem kann das in der Realität passieren. Die ausgewählten theatralischen Personen strahlen eine typische Stimmung von der Jahrhundertswende aus.
Dirne - Soldat, Soldat - Stubenmädchen, Stubenmädchen - der junge Herr, der junge Herr - die junge Frau, die junge Frau - der Gatte, der Gatte - das süße Mädel, das süße Mädel - der Dichter, der Dichter - Schauspielerin, Schauspielerin - Graf, Graf - Dirne… Die Geschichte kehrt zurück, deswegen passt unser Titel doppelt.
Als absolute Lieblingsfigur bei Schnitzler können wir DAS SÜSSE MÄDEL kennenlernen. Sie taucht in den verschiedenen Werken des Autors immer wieder auf. Wenn wir das literarische Phänomen „süßes Mädel” erwähnen, dann wird man sicher gleich an Schnitzler denken. Dieser Typus von Frau lebt in allen weiblichen Kreaturen. Ein verstecktes, süßes, harmloses, 16-jähriges Mädchen lebt in allen Frauen. Nur ein kleines Problem gibt es mit dieser Aussage:
In diesem Werk ist alles scheinbar und unerreichbar. Das „Sein” des süßes Mädels ist nur eine Lüge. Sie spielt ihre Rolle zu perfekt. Sie ist nur eine Illusion des gerade aktuellen Partners. Mit den unschuldigen Lippen kann man besser lügen: es klingt so süß, wenn sie zärtlich flüstert… fast wie ein „Tauschhandel”. Die reine Sexualität kann man durch die Dirne oder mit den anderen Figuren erleben, aber der Kunst von Illusion oder der Mystik von Erotik kann man nur in dieser Szene begegnen.
Etwas fehlt in jeder Szene: Die Liebe spielt in diesem Werk nur eine Nebenrolle. Nach Schnitzler kann man Liebe nur für einige Augenblicke erreichen. Hier wird nur „die Morgenröte der Liebe” gezeigt, die Blütezeit kann sich in dieser Welt nie entwickeln. Statt der Blütezeit bekommt man nur das schon erwähnte Symbol „-----“.
Diese Linie ist eigentlich der Wendepunkt in den verschiedenen Szenen. Es gibt zwei größere Teile des Aktes: die leidenschaftliche Sucht, worauf man nicht „nein” sagen kann… Und nach der „unterbrochenen Linie” bleibt die „antiromantisierte Realität” - ohne Glanz, was manchmal schon peinlich ist:

„DIRNE: Auf der Bank wär’s schon besser gewesen.
SOLDAT: Da oder da…Na, knarr aufi.
DIRNE: was läufst denn so –
SOLDAT: Ich muss in die Kasern, ich komm eh schon zu spät…”

„SOLDAT: Ja, Fräul’n Marie, da im Gras S’ nicht liegenbleiben.
STUBENMÄDCHEN: Sag wenigstens, hast du mich gern?”

„(das Stubenmädchen nähert sich ihm)
DER JUNGE HERR: (entzieht sich ihr) Sie, Marie, ich gehe ins Kaffeehaus.
(Das Stubenmädchen nimmt eine Zigarre vom Rauchtisch, steckt sie ein und geht ab)”

„DER GATTE: (betrachtet das süße Mädel lange, für sich): wer weiß, was das eigentlich für eine Person ist – Donnerwetter… so schnell…War nicht sehr vorsichtig von mir… Hm…
DAS SÜSSE MÄDEL: (ohne die Augen zu öffnen): In dem Wein muß was drin gewesen sein.”

Schnitzler spielt phantastisch mit den Worten von Lebenssituationen. Aus dem ganzen Werk strahlt die scharfe Situationskomik. Ich kann dieses Werk nur empfehlen, wenn ihr einen Einblick in die spannende Welt der Jahrhundertwende sucht.
Als Parallelwerk würde ich die „ungarische Version” des Reigens empfehlen. Das Werk „Körmagyar” von Mihály Kornis ist auch ein sehr interessantes Werk. Hier wurden die Personen nach ungarischem Muster aktualisiert, je nach Namen, nach Orten oder nach politischen Merkmalen. Die ursprüngliche Atmosphäre des originellen Reigens wird beiseite geschoben, dieses Werk stellt andere Dinge in den Vordergrund. Hier dominiert eher die Situationskomik, wenn alles scheitern soll, sonst lohnt es sich nicht. Das ist eine gut gelungene Parodie des Originalwerkes mit Genossen – Anspielung auf die sozialistischen Zeiten, mit Lina Balog Lakatos, mit einer Putzfrau, die immer alte ungarische Schlagers dudelt, und so weiter. Wir Ungarn mögen auch diesen bohemen Teufelkreis.