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Zeitung << 2/2007 << Interview mit Prof. Dr. Heinz Vater


Der Weg von einer schweren Jugend in der Nazizeit zum Sprachwissenschaftler
Interview mit Prof. Dr. Heinz Vater

Autorin: Vera Gulyás

Heinz Vater ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Linguistik. Professor Vater hat an der Kölner Universität unterrichtet. Das Wintersemester 2007 hat er in Szeged, bei unseren Germanistik-Studenten, verbracht. Ich habe mich nach seiner Vergangenheit, seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten und Ansichten erkundigt.

Sie sind in Frankfurt/Oder geboren. Könnten Sie etwas über Ihre Familie erzählen?
Meine Familie hat in der Nazizeit sehr viel durchgemacht, weil meine Mutter Jüdin war. Mein Vater hatte einen anderen Status. Er war Arier. Sie wissen wahrscheinlich, dass die Juden im sogenannten dritten Reich verfolgt wurden. Meine Mutter, meine Schwester und ich mussten den Juden-Stern tragen. Meine Schwester und ich wurden nicht als Mischlinge anerkannt (wir mussten uns „Geltungsjuden“ nennen), nur mein Bruder, der später geboren ist. Das war eine sehr schwere Zeit, wir durften keine Schule besuchen. Im Krieg und während der Nazi-Zeit haben wir viel durchgemacht. Nach dem Krieg haben wir, wie alle Deutschen, sehr viel Hunger gelitten und wir mussten uns sehr mühsam durchschlagen. Aber nach dem Krieg hat ein neues Leben begonnen. Neuanfang und Hoffnung.

Sie haben Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft an der berühmten Humboldt-Universität in Berlin studiert.
Ja, genauer nur Germanistik, da es nämlich damals in den 50er Jahren das sogenannte Ein-Fach-Studium gab. Das hatte man neu eingeführt, um Platz für das Studium des Marxismus-Leninismus in verschiedenen anderen obligatorischen Veranstaltungen zu schaffen. Allgemeine Sprachwissenschaft habe ich später in Hamburg betrieben.

Wie erinnern Sie sich an Ihre Studentenzeit?
Zunächst war für mich alles sehr neu; ich musste mich an das Universitätsleben gewöhnen, aber damals war in der DDR alles sehr streng geregelt und vorgeschrieben. Da war es nicht so schwer, sich hineinzufinden. Was etwas schwieriger war, war der Plan mit 48 Wochenstunden im ersten Semester. Man musste sich ja auch noch vorbereiten. Aber das hat mir eigentlich immer Spaß gemacht.

Haben Ihre linguistischen Tätigkeiten und Ihre sprachwissenschaftliche Karriere schon während der Studentenzeit begonnen?
Im gewissen Sinn ja. Ich hatte zunächst gemerkt, dass mir Mittelhochdeutsch sehr viel Spaß macht. Wir hatten im ersten Semester Mittelhochdeutsch, später kam Althochdeutsch hinzu. Die meisten Studenten mochten das nicht. Es hat mich einfach sehr interessiert, ältere Sprachzustände zu studieren. Das Studium war damals historisch ausgerichtet, diachron. Es gab keine Veranstaltung zur synchronen Linguistik. Aber in diesem Rahmen hatte ich schon Interesse bekommen. Ich hatte gelegentlich von auswärtigen Professoren Vorträge gehört. Auch von Professoren anderer Fächer, z.B. Afrikanistik, wo ich merkte, dass das Sprachstudium sehr interessant sein kann.

Wie kamen Sie schließlich nach Hamburg, wo Sie Assistent waren?
Ich bin aus der DDR geflüchtet. Ich war Assistent an der Akademie der Wissenschaften in Berlin, direkt nach meinem Studium, von 1955 an. Nach meiner Flucht hatte ich zunächst keine Stelle an der Uni, sondern bei der Gesellschaft für Deutsche Sprache in Lüneburg. Von 1965 bis 1969 war ich Assistent der Allgemeinen Sprachwissenschaft an der Hamburger Uni. Ich musste dort noch viel nachholen, zum Beispiel habe ich Griechisch gelernt.

Sie haben Ihre Promotions- und Habilitationsschrift in Hamburg geschrieben.
Die Promotion hatte ich zum größten Teil schon in Berlin durchgeführt. Ich hatte meine Doktorarbeit schon vollendet, auch schon abgeliefert. Sie wurde mit summa cum laude, mit der besten Note, bewertet. Ich hatte auch mein Rigorosum gemacht, nur die mündliche Verteidigung hat noch gefehlt. Die sollte am 4. Oktober 1961 stattfinden, aber am 24. September war für mich die letzte einzige Möglichkeit zur Flucht. Ich konnte Gott sei Dank meine Arbeit hinüberretten und in West-Deutschland, in Hamburg, neu einreichen. Ich habe meine Promotion dort vollendet. Ich habe mich dort noch als Assistent der Allgemeinen Sprachwissenschaft habilitiert und im Jahre 1969 die Habilitation abgeschlossen.

Die Themen dieser Arbeiten sind sehr unterschiedlich. Der Titel Ihrer Doktorarbeit ist das System der Artikelformen im heutigen Deutsch, und Thema Ihrer Habilitationsarbeit sind Dänische Subjekt- und Objektsätze. Sind diese Bereiche Ihre Lieblingsgebiete?
Syntax war damals mein Hauptinteressengebiet, und von der Nominalphrase und der Syntax hatte ich mich sehr bald den Verbphrasen und der Satzsyntax zugewandt, die ich als Habilitationsarbeit bearbeitet hatte; später kamen andere Bereiche dazu.

Mit welchen Forschungsbereichen beschäftigen Sie sich außer der Syntax noch?
In den USA hatte ich angefangen, mich für Phonologie zu interessieren. Dort hatte ich gemerkt, dass die Studenten große Schwierigkeiten mit der Aussprache des Deutschen hatten. Ich hatte dort einen Phonologie-Kurs für Germanistikstudenten eingerichtet. Seitdem gehört Phonologie zu meinen Hauptgebieten. Aber ich habe mich dann wieder auch stark der Semantik zugewandt, besonders dem Tempussystem und den Modalverben. Dann kamen später noch Textlinguistik und Psycholinguistik hinzu mit dem mentalen Lexikon als Schwerpunkt, worüber ich mehrere Vorträge gehalten hatte.

Arbeiten Sie im Moment an einem Forschungsprojekt?
Ich hatte vor kurzem in Szeged und auch in Budapest über den Kasusgebrauch vorgetragen und habe einen umfangreichen Artikel zum Kasusgebrauch des Deutschen nach Spanien geschickt, wo er in einer spanischen germanistischen Zeitschrift erscheint. Ich habe auch im morphosyntaktischen Bereich angefangen, mich dafür zu interessieren, wie Anglizismen im Deutschen verarbeitet werden, und wie sie in das morphologische System des Deutschen integriert werden. Dann bin ich gebeten worden, noch einmal einen Überblicksaufsatz über den Strukturalismus in Deutschland zu schreiben. Zu diesem Thema hatte ich schon 1982 ein Buch veröffentlicht.

In welchen Ländern haben Sie Gastvorträge gehalten?
In sehr vielen Ländern. In den USA war ich tätig an der Indiana University und war später als Gast auch an anderen amerikanischen Universitäten, zum Beispiel in Kalifornien. Dann war ich schon als Gastprofessor in Frankreich, an einer der Universitäten in Paris. Ich war mehrmals in Dänemark und Norwegen, dreimal als Gastprofessor an unterschiedlichen polnischen Universitäten, einmal in Litauen, einmal in Japan und Korea. Und natürlich in Ungarn.

Wie sehen Sie das Niveau, die Qualität des Unterrichts und der Ausbildung hier an der Universität Szeged im Vergleich zur Universität in Köln, wo Sie unterrichtet haben?
Nicht so einfach zu vergleichen. Ich sehe hier große Unterschiede zwischen den Anfängern und den Fortgeschrittenen. Mit den Anfängern hatte ich am Anfang große Probleme. Obwohl ich mir immer Mühe gebe, langsam und deutlich zu sprechen, hatte ich doch das Gefühl, dass ein großer Teil der Studenten des ersten Studienjahres die Vorlesung nicht versteht. Ich habe mittlerweile erfahren, dass die Einführungsvorlesung – Einführung in die Linguistik – an anderen Universitäten, zum Beispiel in Debrecen auf Ungarisch gehalten wird, weil der Professor dort, Professor Kertész, davon ausgeht, dass die Deutschkenntnisse nicht gut genug sind. Ich finde es auch katastrophal, dass die Vorlesung einstündig ist. Ich habe sie in Deutschland vierstündig gehalten: zwei Semester je zwei Stunden. Die Linguistik hat viele Einzelgebiete, und allein die Kerngebiete – Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik – erfordern schon viel Zeit. Wenn man sich auch noch mit den sehr interessanten interdisziplinären Gebieten beschäftigen will – z.B. Psycholinguistik, Neurolinguistik, Sprachphilosophie – braucht man mehr als diese eine Stunde pro Woche. Was ich gar nicht verstehe: 70 Studenten haben sich zur Vorlesung angemeldet und ungefähr 35 Studenten kommen jedes Mal. Die anderen kommen entweder überhaupt nicht oder jedes zweite Mal und verstehen dann so gut wie nichts. Das war eine sehr schlechte Erfahrung. Demgegenüber habe ich im Seminar im vierten Studienjahr recht gute Erfahrungen gemacht; es wurden teilweise schöne Referate gehalten, über die ich mich gefreut habe.

Welche Seminare halten Sie?
Das eine nennt sich Probleme der deutschen Grammatik. Mit zwei Problemkreisen beschäftigen wir uns, einmal mit Valenz und dann mit Tempora. In beiden Bereichen wurden gute Referate gehalten. Die Studenten haben zum Teil sehr selbständig gearbeitet, nicht nur aus Büchern abgeschrieben. Dann gebe ich noch ein Doktorandenseminar. Das läuft ganz großartig. Die beiden Doktorandinnen haben sehr gut mitgearbeitet, ich habe sie nicht nur angeleitet, sondern auch viel von ihnen gelernt. Insgesamt finde ich zwar schon, dass das Niveau an der Kölner Universität höher ist, aber Deutsch ist für die Studenten dort natürlich die Muttersprache. Und hier geben sich die Studenten viel Mühe und arbeiten viel.

Wie könnte diese Situation verändert werden?
Meiner Meinung nach müsste die Stundenzahl geändert werden; eine Stunde reicht für eine Einführungsvorlesung überhaupt nicht aus. Dann müsste die Vorlesung auch mit Seminaren koordiniert werden. In Budapest habe ich diese Erfahrung gemacht. Man müsste natürlich auch dafür sorgen, dass den Studenten die neueste Literatur zur Verfügung steht. Das ist eine Anforderung an die Bibliotheken, wobei ich nicht weiß, ob sie das leisten können. Also, es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, das Studium zu verbessern.

Wie schätzen Sie die Verpflichtungen der Germanistikstudenten einerseits und andererseits die der Lehrer, Professoren, die hier an der Universität arbeiten, ein?
Als Gast ist meine eigene Verpflichtung nicht so groß. Ich hätte über die sechs Stunden hinaus noch zwei Stunden übernehmen können. Aber ich langweile mich nicht. Ich habe viele Vorträge vor den Germanisten und Linguisten in Szeged, in Budapest und in Debrecen gehalten. Ich glaube, dass auch die Kollegen genug zu tun haben. Ich weiß, dass das Studium hier schon nach dem Bologna-Schema mit Hauptfach-Nebenfach (major, minor) umgestellt worden ist. Für die Studenten, die Deutsch als Nebenfach haben, sind die Stunden meiner Ansicht nach zu gering. Beim Hauptfach ist es ausreichend.

Bald fahren Sie nach Hause, nach Deutschland. Wie haben Sie sich hier gefühlt?
Ich habe mich hier sehr wohl gefühlt. Das betrifft sowohl meine Wohnung im Gästehaus im Móra Ferenc Kollégium, wo man sich sehr wohl fühlen kann. Außerdem habe ich auch das Kulturleben in Szeged genossen. Ich bin oft ins Konzert gegangen. Ich war einmal im Dom, zweimal in der Synagoge und mehrmals in der Musikhochschule, wo man Konzerte auf sehr hohem Niveau genießen kann.

Welche Städte haben Sie in unserem Land besucht?
Neben Budapest und Szeged war ich auch in Debrecen. Ich hatte auch eine Einladung nach Pécs, hatte aber zu viele andere Verpflichtungen und Vorträge; so musste ich absagen. Leider sind die Bahnverbindungen hier nicht sehr gut. Nach Pécs gibt es gar keine. Man fährt mit dem Bus, vier Stunden.

Haben Sie auch die ungarischen Spezialitäten gekostet?
Oh, ja. Ich habe Pörkölt gegessen.

Und Gulasch auch?
Ja, aber Gulasch ist hier etwas anders. Eine Suppe. Und auch Ente auf ungarische Art zubereitet habe ich gegessen. Ich war in einem sehr schönen Restaurant gegenüber dem Mora Kollegium, im Blueskert, wo Blues gespielt wird und wo man gut isst. Ich war mit Professor Bassola und anderen Kollegen in der Halász Csárda an der Belvárosi Híd. Dort isst man hervorragend.