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Literatur der Roma in den deutschsprachigen Ländern
Autorin: Anita Rácz-Romsics

Um von den Sinti und Roma oder Zigeunern in Deutschland zu sprechen, ist es nötig erst einmal auf die Terminologie einzugehen. Als offizielle Bezeichnung wird „Roma und Sinti” verwendet, im Gegensatz zu der internationalen Bezeichnung, die „Roma” lautet. Beide Bezeichnungen sind falsch, weil Zigeuner ein Sammelbegriff ist, und „Sinti und Roma” und die anderen Arten von Zigeunern zu einer Nationalität gehören. Doch dieser Ausdruck wird einerseits oft von Leuten verwendet, die eine negative Einstellung gegenüber Zigeunern haben. Auf der anderen Seite hat der Ausdruck „Zigeuner” für viele Menschen keine Konnotation, beziehungsweise keine negative. Viele jüngere Leute und solche, die von der Kultur, der Art sich zu kleiden oder der Musik, der Literatur der Zigeuner begeistert sind, verbinden nichts negatives mit der Bezeichnung Zigeuner. In der Presse werden beide Bezeichnungen akzeptiert und auch verwendet (vgl. Erich Hackl: Abschied von Sidonie. Die Geschichte eines Zigeunermädchens, das wegen seiner Abstammung getötet wird, GeMa 2/2003).

Die ersten schriftlichen Zeugnisse über die Ansiedlung der Roma in Deutschland stammen aus dem Jahr 1407. Die Roma wurden seit 1500 kriminalisiert. Es war ein großer Nachteil, wenn jemand in einer Zigeunerfamilie geboren wurde. Egal, was für ein Leben er führte. Die musizierenden Zigeuner hatten ein wenig bessere Chancen, aber die Stereotypen verfolgten auch sie. Unter der NSDAP (in der Zeit des Zweiten Weltkriegs) wurden sie sprichwörtlich hingerichtet. Die meisten Menschen denken an die Juden, wenn man über Konzentrationslager spricht. Fast alle vergessen aber die Leiden der Roma.
Die Roma können es nicht vergessen und auch nicht akzeptieren, dass die nachkommenden Generationen sich nur mit dem traurigen Schicksal der Juden beschäftigen. Viele berühmte Filme, Bücher, Tagebücher (zum Beispiel: Tagebuch von David Rubinowitz, Tagebuch von Anne Frank) beschäftigen sich mit der Katastrophe der Juden (vgl. Die großen Sündenböcke der Geschichte: die Juden, GeMa 1/2002). Die Holocaust-Denkmäler der Roma sind fast unbekannt. Aber die Überlebenden, die der Roma-Minderheit angehören, haben auch Bücher und Tagebücher geschrieben. Trotzdem denken noch immer einige Menschen, dass alle Roma Analphabeten sind.
Die Themen der Literatur der Zigeuner sind vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ganz unterschiedlich. Im 19. Jahrhundert hat ein Chronist namens Aguado (in der Schweiz geboren) die bekanntesten Volksmärchen, Volkssagen und Volkslieder der Zigeuner gesammelt. In diesen Volksmärchen und Volkssagen geht es um die Flucht von Mädchen, um Frauenraub, manchmal auch um Frauentausch. Es wird eine idyllische Welt, in der es keine Armut und keinen Hass gibt, dargestellt.
Zur Jahrhundertwende hat Matéo Maximoff ein Paar Kurzgeschichten geschrieben. Er ist in Spanien geboren, aber seine Eltern waren Zigeuner aus Russland. Die Familie wanderte immer, er lebte auch in der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland. Sein Werk „Savina“ beschäftigt sich mit der Problematik einer Dreierbeziehung. Sein Hauptwerk war die Bibelübersetzung ins Kalderasch. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat Angelo Neglia über die Verwandtschaft geschrieben. Er ist in Italien geboren und hat in der Schweiz gelebt. In seinen Werken schrieb er über die Eheformen und über den Frauenerwerb. Nach den Worten von Neglia kann die Ehe durch Raub-Tausch oder durch Liebe mit Erlaubnis des Vaters geschlossen werden. Die Jungfräulichkeit war die absolute Vorbedingung (außer bei der Tauschheirat). In seinen Werken und auch in der Literatur anderer Zigeuner spielt auch die Geisterwelt eine sehr bedeutungsvolle Rolle. Heute ist das noch immer aktuell. Der Aberglaube und die alten Bräuche verschmelzen mit der christlichen Religion.
In literaturwissenschaftlichen Werken kann man lesen, was für eine starke Kritik der junge Goethe bekommen hat. Er hat in seinem Drama „Götz von Berlichingen“ ein positives Bild der Zigeuner gezeichnet. Die Zigeuner Räuber helfen dem verwundeten Götz und spielen mit ihrem Leben. Das war für den damaligen Gesellschaftsgeschmack unakzeptabel. Goethe musste sein Werk umschreiben.
Milan Begovic (Deutschland) hat seine Wer­ke in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben, beispielsweise „Amerikanische Jacht im Hafen von Split“, „Die Sünderin“, und „Brennende Herzen“, sein berühmtestes Werk, das 1940 in Weimar uraufgeführt wurde. Das ist kein Missverständnis, die Premiere war wirklich in der „Nazi-Zeit”. Es ist auch bemerkenswert, dass gerade in Weimar die Nationalsozialisten diese Uraufführung erlaubten und zuließen, dass danach auch noch einige andere Theater das Stück spielten. Heute ist Begovic Mitglied des Hamburger Theaters.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieben die Roma, die die Konzentrationslager der Nazis überlebten, nicht mehr über Frauenraub und Freiheit. Im Werk „Zigeunermärchen“ (1989) geht es Philomena Franz um Zigeunermärchen und Volkssagen. Aber diese Märchen sind nicht mehr so harmlos wie früher. Die Märchenfiguren symbolisieren oft eine andere sekundäre Bedeutung. Joseph Muscha Müller schreibt über die Leiden der Zigeuner, über die Ungeheuerlichkeit der Konzentrationslager und darüber, wie er eigentlich diese Epoche überleben konnte. „Und weinen darf ich auch nicht“ (2002) ist eine wahre Geschichte aus seinem Lebenslauf. Frithjof Hoffmann ist in Dievenow/Pommern geboren und lebte in Prag und in Hildesheim. Er konvertierte als Erwachsener zum Islam und suchte in seinem ganzen Leben das Identitätsbewusstsein. Seine Hauptwerke sind: „Lyrische Gedanken“ (1996), „La-La-Lyrik“ (1992), „Fremd unter Fremden“ (1995). Die Geschichte des Werkes von Melanie Spitta „Schimpf uns nicht Zigeuner!“ (1998) hat Kathrin Seybold (auch eine Roma) verfilmt.
Rajko Djuric und Ljatif Demir sind anerkannte Übersetzer. Beide stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien und leben heute in Deutschland. Rajko Djuric hat eine Anthologie der Roma-Literatur herausgegeben. Ljatif Demir hat die erste Lorca-Übersetzung angefertigt.
In Österreich leben die Roma seit dem 15. Jahrhundert. Unter der Herrschaft von Maria Theresia wurden sie gezwungenermaßen assimiliert. Heutzutage leben 70000 Roma in Österreich. Die vielleicht bekannteste österreichische Roma Autorin ist Ceija Stojka. Ihr Lebenswerk Wir leben im Verborgenen (1989) besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist ein Gespräch mit Karin Berger, der zweite Teil ist eine Deklaration mit dem Titel: Ist das die ganze Welt? Ceija Stojka: Reisende auf dieser Welt (1992) beschäftigt sich mit dem Schicksal der Zigeuner. Sie gehört zu einer aussterbenden Zigeunerminderheit, zu den Jenisch. Sie hat ihre Werke nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Jenisch geschrieben. Ihr Bruder Karl Stojka hat einen Lebenslauf in „dialogischer Form” geschrieben, mit dem Titel Auf der ganzen Welt zu Hause.
In der Schweiz leben nur wenige Zigeuner, ca.7000, sie gehören auch zur Gruppe der Jenisch-Zigeuner. Zu dieser Minderheit gehört auch Mariella Mehr, die 1947 in Zürich geboren wurde, und damit nicht mehr zu den „KZ-Zigeunern” gehört. Ihre Eltern waren Wanderzigeuner, „Kinder der Landstraße”. Aus diesem Grund hat sie ihr Drama mit dem gleichen Titel geschrieben. Ihre Familie wurde von den schweizer Behörden unter Zwang „sozialisiert”. Ihre Werke sind nicht mehr so melancholisch wie die Werke der „KZ-Zigeuner”. Sie gehört schon zu einer neuen Generation, die zu den klassischen, harmlosen Themen zurückkehrt und versucht zu vergessen, was für eine Zäsur der Zweite Weltkrieg verursacht hat.