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Zeitung << 1/2006 << Berlin, Berlin


Berlin, Berlin
Studienreise zum Offenen Kanal Berlin

Autorinnen: Hilda Ács, Nóra Andornaki, Edit Békési

Der OKB (Offener Kanal Berlin) wurde im April 2006 von den Germanisten der Universität Szeged besetzt. Der OKB ist eine TV-Gesellschaft, die den Bürgern die Möglichkeit für die freie Meinungsäußerung in den Medien gibt. Wenn man eine echt gute Idee, ein populäres Thema hat, dann stellt dieser Kanal seine Mitarbeiter und seine Technik zur Verfügung. So kann man einen eigenen Film drehen und im Fernsehen vorführen. Unsere DAAD-Lektorin Dr. Ellen Tichy hat ein solches Projekt entwickelt und verwirklicht. Zehn Studenten konnten im Rahmen dieses Projekts im April 2006 in die deutsche Hauptstadt fahren.

Samstag: Berlin, Berlin, oh wie weit du bist! Wir flogen schon seit 11 Stunden mit den Flügeln der MÁV, als es in Dresden einen „Lockschaden“ gab. Das war unser erstes Abenteuer und das erste Wort, das wir in Deutschland lernten. Unsere kleine Gruppe musste also zweimal umsteigen. Wegen des riesigen Gepäckes konnten wir uns kaum bewegen. Um 1 Uhr in der Nacht kamen wir in der Hauptstadt an. Marco Winkler, unser Begleiter improvisierte für uns eine kleine Stadtführung: „Hier ist der Alexanderplatz, dort der Fernsehturm, und da befindet sich das Parlament, und dort hinter diesem großen Gebäude liegt…“ Aber wegen der großen Dunkelheit konnten wir das große Gebäude auch nicht sehen.
Frau Tichy wartete schon auf uns in Berlin. Sie lächelte, da uns die Strapazen anzusehen waren. Das Jugendgästehaus war befriedigend, aber wir alle waren ein bisschen aufgeregt und beschäftigten uns mit den folgenden Fragen: Wo sind die anderen Duschkabinen? Wo ist der Kühlschrank? Wer schläft oben?
Sonntag. Frühstück um 8 Uhr. Rührei, gekochte Eier, Brötchen, Salami, Corn-Flakes, Marmelade, Obst, Joghurt, Kaffee, und für uns ein bisschen fremder Tee. „Schau mal, hier gibt es Leber zum Frühstück!“ – rief Laci, der einzige junge Mann auf, und zeigte auf die Marmelade. Macht nichts, wir probierten alles, und wenn etwas ausging, konnten wir uns an die türkischen und polnischen Küchenfrauen wenden, die vielleicht einen noch stärkeren Akzent hatten als wir. Dann bemerkten wir, dass wir noch kein echtes deutsches Wort hörten. Franzosen, Japaner, Schweizer in dem Jugendgästehaus, Türken und Afroamerikaner in der U-Bahn. Am Vormittag gingen wir in eine Einkaufshalle, die bei einer Unterführung lag. Vor dem Geschäft pinkelte ein Obdachloser und deshalb nannten wir diesen Supermarkt „Pinkel-Shop“. Bei der Unterführung bewunderten wir die Punks mit ihren riesigen Hunden und einen Transvestiten in Minimal-Stil. Die größte Überraschung war, als ein sportlich gekleideter junger Mann in die U-Bahn sprang und mit einer Gitarre witzige Lieder vortrug. Danach sammelte er die Beute, die ein paar Euro betrug, in einen kleinen Adidas-Schuh ein.
Berlin ist die Stadt der Kontraste. An der Oberfläche sind wunderschöne Autos, die nagelneusten Fotoapparate, die hübschesten Frauen und unter der Oberfläche sind türkische Mütter mit ihren Kindern, Studenten, Arbeiter, singende, schreiende oder schon ganz verstummte Obdachlose. Mit unserer sozialen Empfindlichkeit fanden wir schnell unsere Themen für die Beiträge heraus. Stadtrundfahrt mit einem Bus noch im Sonnenschein, zu Fuß im Regen, im starken Wind in typisch ungarischer Manier. Das neue Holocaust-Denkmal im Herzen der Stadt wirkte mit seinen Betonblöcken erschreckend. Der Dom, die Humboldt Universität, das Pergamonmuseum mit seinen wunderbaren Denkmälern…das muss man einfach sehen! Am Abend hatten wir eine Besprechung über unsere Themen und die bislang erworbenen Erfahrungen.
Montagmorgen. Wir gingen in den OKB. Nach einer dreiviertelstündigen Fahrt unter der Erde waren wir dort. Anne Braun, die „Kleine Chefin“ führte unsere Gruppe herum. Sie zeigte uns die Technik, das Programm der Woche und die anderen Kollegen, die ein Praktikum bei dem OKB machen. Anne war so schnell, dass wir ihr kaum folgen konnten. Sie schrieb uns immer ein festes Tagesprogramm vor, weil die Arbeit ohne ein solches nicht geht. Wir teilten uns in drei Gruppen, und wählten die Themen. Anne gab uns drei Helfer mit. Wir mussten ein Exposé zu unserem kleinen Film schreiben, dann darüber sprechen. Uns blieb nur eine Stunde, die Kamera kennen zu lernen. In dem Bereich der Technik – müssen wir gestehen – brillierte niemand von uns. In den Interviewsituationen nahmen wir nur einen Teil des Kopfes auf. Sinisa, der mit uns arbeitende Fachmann ertrug unsere technophoben Äußerungen mit großer Toleranz. Als wir zusammen aßen, stellte sich heraus, dass er aus Jugoslawien stammt. Wir lachten nur darüber: Sieh da! Schon wieder ein echter Deutscher… Wir wurden von Herrn Jürgen Linke, dem Chef des OKB, zum Abendessen eingeladen. Das Essen war fein, das Restaurant war sehr angenehm bis zu dem Augenblick, als eine Gruppe von etwa dreißig Japanern kam, die ein bisschen laut war.
Dienstagmorgen. Wir alberten noch eine Stunde mit der Kamera herum, dann brachen die drei Gruppen auf. Bea, Réka und Mariann spürten die Obdachlosen auf; Barbara, Ivett, Adri und Laci suchten die Antwort darauf, was typisch für Berlin ist. Edit, Hilda und Nóra interviewten ausländische Studenten. Von 11 bis 16 Uhr liefen, drehten, fragten und natürlich lachten wir übereinander.
An der Ungarischen Botschaft und auf der Humboldt Universität machten wir verschiedene Interviews. Réka und die anderen interviewten einen Transvestiten, der mit einem Bakelit auf seinem Kopf herumspazierte und schreiende, weibliche Kleidungsstücke trug. Ein dramatisch komischer Moment war es, als dieser Obdachlose dreimal betonte, dass Wien seine zweite Heimat sei…
Ivett wurde wegen ihres glänzenden Münchener Akzents gelobt, bzw. als sie sagte, dass sie aus Ungarn komme, schrie der Mann, dass sie schon dort gewesen wäre und das eine wunderschöne Stadt sei. Wir dichteten diese Aussage nach dem Muster vom Bukarest-Budapest-Syndrom weiter. Also, Ungarn ist die Hauptstadt von Rumänien…
Mittwoch. Der Schnitt ging auch nicht ohne Probleme über die Bühne, aber wir betrachteten die Patzer mindestens hundertmal, die auch hundertmal witzig wirkten. Im Studio vom OKB konnten wir traditionelle deutsche Lieder hören, und zwar beim Vortrag eines Rentnerklubs, mit dem der OKB eine Sendung machte. Donnerstag. Wir gaben dem Film den letzten Schliff, dann begannen die Vorbereitungen auf das Studiogespräch, an dem auch Herr Linke teilnahm. Wir sprachen darüber, warum wir dort waren, über unsere Eindrücke, und es ging auch um die ungarischen Medien. Man konnte stolz auf die Gruppe sein, wir waren einfach Profis. Wir lernten viel über die Stimme, das Licht, das Bild und halfen die Kulissen zu bauen, dann abzubrechen. In dieser Sendung führte der OKB unsere Filme vor.
Freitag. Eine letzte Stadtrundfahrt in dem starken Wind. Abendessen bei Frau Tichy, mit Herrn Linke und mit dem kraftvollen OKB-Cocktail. Dieses geheimnisvolle Getränk besteht aus Vodka und noch zwei Komponenten, die Herr Linke uns aber nicht verriet.
Samstag früh. Nach Hause. Zum letztem Mal fuhren wir durch die Stadt. Wir waren still und müde, vielleicht des Grappas und Biers von gestern wegen. Adri sah starr aus dem Zug, ihre Augen nahmen Abschied von dem Panorama. „Ich versuche zu schauen, wo wir waren“, sagte sie. Wir verabschiedeten uns auch von dem Fernsehturm, der wie ein Edelstein hinter den grauen Blockhäusern leuchtete.


Gespräch mit dem Leiter des Offenen Kanals Berlin, Jürgen Linke

Was sind Bürgermedien, was bedeutet Bürgerfernsehen?
Bürgerfernsehen heißt, dass Bürger Fernsehen machen. Alle Leute haben die Möglichkeit eigene Fernsehsendungen zu machen. Das wird in Deutschland durch die offenen Kanäle umgesetzt.

Wie funktioniert das? Haben alle das Recht einen eigenen Beitrag zu machen?
In den Bundesländern, in denen es offene Kanäle gibt, haben die Leute das Recht diese offenen Kanäle zu nutzen. Es ist also nicht eine Gnade, die man gewährt. Sondern die Leute haben das Recht zu den offenen Kanälen zu gehen und zu sagen: Ich will eine Fernsehsendung machen. Offene Kanäle gibt es in Deutschland seit über 20 Jahren, seit 1984, und allein diese lange Zeitdauer ist ja ein Beweis dafür, dass es funktioniert. Die Leute kommen und machen aus unterschiedlichen Motiven ihre Sendung, und die offenen Kanäle bieten dazu die Infrastruktur. Die meisten Leute, die zu uns kommen, sind Amateure, wir bieten Kurse an, damit sie lernen, wie man Fernsehen macht. Wir helfen ihnen bei der Produktion und bieten dann Sendezeit, so dass die Beträge auch an die Öffentlichkeit gelangen.

Wie wird der Offene Kanal Berlin finanziert?
Alle Leute in Deutschland, die Radio und Fernsehen zu Hause empfangen, bezahlen eine Gebühr, und der OKB wird zu 100% aus Rundfunkgebühren finanziert. Das sind keine Steuergelder, also keine staatlichen Gelder. Rundfunkgebühren sind unabhängig vom Staat.

Ich glaube, es wäre in Ungarn unvorstellbar, Fern­sehen oder Radio ohne Zensur zu machen. Wie geht das?
Das ist ganz einfach: Man macht Fernsehen ohne Zensur (lacht). Und wenn man das hört, denkt man daran, dass fast jeden Tag furchtbare Dinge auf dem Fernsehschirm passieren. Aber meine Reaktion ist dann immer – insbesondere gegenüber Politikern –, dass ich sage: Warum sollen eure Wähler kriminell werden, nur weil sie Fernsehen machen dürfen? Also, die meisten Menschen, die dieses Angebot nutzen, verhalten sich sehr verantwortungsbewusst und haben natürlich gar kein Interesse gegen Gesetze zu verstoßen. Das ist wirklich die absolute Aus­nahme. Man muss vor Offenen Kanälen keine Angst haben, oder vor den Wählern.

Wie sieht die politische Beeinflussung ohne Zensur aus?
Es gibt keine politische Beeinflussung. Bei offenen Kanälen, aber auch bei anderen Fernsehstationen und im Radio ist politische Werbung verboten. Man kann ein Interwiev mit einem SPD-Politiker machen oder mit einer CDU-Politikerin oder mit anderen Parteien. Und wir senden solange, bis es keine politische Werbung ist. Wenn der Politiker sagt, wir sind die besten, werdet Mitglied, dann wird es problematisch, dann müssen wir mit den Leuten reden, aber das ist wie im normalen Fernsehen. Wenn Bürger Politiker in das Studio einladen, ist das möglich und auch erwünscht.

Es gibt in Berlin sehr viele Nationalitäten. Arbeiten sie auch beim Offenen Kanal Berlin mit?
Alle Menschen, die in Deutschland wohnen, egal ob sie Deutsche sind oder Ausländer, können im OKB senden, aber sie müssen volljährig sein, mindestens 18 Jahre. Wir haben in Berlin sehr viele Ausländer, die auch den offenen Kanal in ihren eigenen Sprachen nutzen. Wir haben eine ganze Menge Sendungen in türkischer Sprache. Auch serbische Gruppen machen bei uns Sendungen. Das funktioniert auch sehr gut und es ist, glaube ich, wichtig für die Leute, dass sie diese Erfahrungen machen können, wie Demokratie funktioniert. Sie haben das gleiche Recht wie die Deutschen, sie haben das gleiche Recht eben von diesem Angebot der offenen Kanäle Gebrauch zu machen und eigene Sendungen zu machen.

Funktioniert das immer konfliktlos?
Es gibt hin und wieder Konflikte, das ist ganz klar. Man kann aber nicht sagen, dass es bei den Sendungen, die von Ausländern gemacht werden, mehr Konflikte gibt als bei den Deutschen. Wenn Reaktionen auf Sendungen erfolgen, egal ob von türkischer oder deutscher Seite, ist der Grund für die Reaktionen häufig die Unfähigkeit, die Meinung der anderen zu akzeptieren. Leute sehen und hören das und sagen: „Das ist falsch, was die Leute da sagen!“, und dann beschweren sie sich, aber es ist wirklich in den meisten Fällen die fehlende Toleranz. Wenn man das Konzept des OKB erklärt und die Kritiker es verstehen, lösen sich diese Konflikte meistens von selbst.

Wie könnten Sie unser Medienprojekt zusammenfassen?
Das war für alle Beteiligten, glaube ich, eine Premiere, und für eine Premiere ist es sehr gut gelungen. Wenn man vom Ergebnis ausgeht: es hat eine gute Sendung gegeben. Aber ich finde, viel wichtiger ist der Arbeitsprozess, der Austausch, das Kennenlernen. Wenn die Sache gut läuft, und deshalb bin ich nach Szeged gefahren, wird hoffentlich die Kooperation zwischen der Universität Szeged und dem OKB fortgesetzt.

Adrienn Németh - adriennnemeth@yahoo.de




Berliner Currywurst
Ein Werkstattbericht über den Kurzfilm „Berlin – Impressionen“ des Medienprojekts

Der Film ist eine Reportage-Montage über Kontraste und deren Überwindungen in Berlin. Wir wollten mit unserem Kurzfilm die Kontraste von Berlin aus unserer Perspektive auf mehreren Ebenen zeigen: die verschiedenen Gebäude, die verschiedenen sozialen Schichten und wie diese verschiedenen sozialen Schichten zusammengebracht werden unter einem Dach in der Form einer Currywurstbude. Wir haben einfach unsere Berliner Impressionen gezeigt. Als Einleitung haben wir die Kontraste anhand verschiedener Bären, Gebäude und Menschen dargestellt. Dann haben wir uns zwei Fragen gestellt: Was ist typisch für Berlin? Was bringt die Berliner zusammen? Wir wollten damit beweisen, dass Currywurstbuden eine Schmelztiegel der Berliner bedeuten. Als Touristen ist uns aufgefallen, dass sich alle vor den Currywurstboden treffen. Ich glaube, Anne, unsere Chefin vom OKB, war nicht zufrieden, weil wir nicht dem Ablaufplan des Projektes folgen konnten. Schon mit dem Schreiben des Treatments hatten wir Probleme. Wir konnten nicht Bild für Bild unseren Film beschreiben, weil wir selbst noch keine genauen Vorstellungen hatten. Wir wollten einfach interessante Bilder aufnehmen. So war es selbstverständlich, dass wir keine Reihenfolge der Bilder aufstellen konnten. Infolgedessen bekamen wir nach dem ersten Tag scharfe Kritik. Ein Betreuer kann eine große Hilfe sein, besonders dann, wenn er oder sie die Eigenschaften der Gruppe akzeptiert. Unsere Betreuer Jens, Mathias und Karsten bemerkten sofort unsere Selbständigkeit und ließen uns alles allein machen. Mir gefiel besonders der Dienstag. Wir holten zuerst die Technik ab und dann drehten wir. Ich war endlich hinter der Kamera. Ich habe schon verschiedene Kurzfilme gedreht, aber ich hatte noch nie eine Möglichkeit, ganz allein zu drehen. Es war draußen sehr kalt. Es fror mich an den Füssen, mit meinem eiskalten Finger konnte ich fast nicht die Knöpfe der Kamera drücken. Aber es war trotzdem wunderbar. Ich glaube, wir nahmen schließlich sehr gute Bilder auf. Dann schrieben wir das Schnittprotokoll. Das war schon ein bisschen schwer, weil wir schon unfähig waren uns zu konzentrieren. Der nächste Tag war hektisch und chaotisch. Fast alle von unserer Gruppe hatten verschiedene Meinungen über den Schnitt des Filmes. Die ungarische verbale Prügelei-Kommunikation brach an, und wer noch nicht daran gewöhnt ist, schaute uns nur stumm und halb lächelnd an. Am Ende des Tages waren wir schon müde zu streiten. Endlich waren wir fertig. Kein Stress mehr wegen der ungeschriebenen Off-Kommentare, wegen der fragwürdigen Szenen, wegen der Musik, die wir ganz eigenartig einschwärzten. Der nächste Tag und damit die Fertigstellung der Sendung waren für uns schon vergnüglicher.

Adrienn Németh - adriennnemeth@yahoo.de