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Zeitung << 1/2006 << Der Germanistik-Papst in Szeged


Der Germanistik-Papst in Szeged
Interview mit Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler

Autorin: Szilvia Gál

Am 11. und am 12. April 2006 hielt der Professor der Wiener Universität an unserem Institut zwei Vorträge über die österreichische Literatur nach 1945 vor einer großen Anzahl von Studenten und Dozenten. Aus diesem Anlass interviewte das GeMa Herrn Prof. Schmidt-Dengler.

Wie von anderen geäußert wurde, sind Sie „Österreichs wahrscheinlich bekanntester Germanist.“ Sie sind Mitglied zahlreicher Gesellschaften, Leiter des Österreichischen Literaturarchivs an der Österreichischen Nationalbibliothek und Gastprofessor an zahlreichen europäischen Universitäten. Es fehlt hier der Platz, alle Ihre Tätigkeiten aufzuzählen. Wie können Sie Ihre vielseitigen Tätigkeiten miteinander vereinbaren?
Das ist gar nicht so vielseitig, dass ich der Leiter des Literaturarchivs und zugleich Professor bin, was natürlich eine gewisse Spaltung bedeutet, aber ein Teil der Arbeit des Archivs ist auch das, was ich für die Lehre und die Forschung verwenden kann. Der andere Teil: die Reisen sind einfach notwendig, weil wenn man immer nur in Wien bleibt, oder in der deutschen Sprache bleibt, weiß man überhaupt nicht, was mit der deutschen Literatur in der Welt los ist. Man muss irgendwo anders hinfahren, um zu sehen, dass es gar nicht so leicht ist, über die deutschsprachige Literatur zu sprechen. Ich glaube, dass es in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft und in Europa notwendig ist, dass der Austausch zwischen den einzelnen Universitäten und den einzelnen Literaturen intensiver stattfindet, als das bis jetzt der Fall war. Wir müssen über unseren „Topfrand“ hinausschauen und daher fahre ich sehr gern dorthin, wo man die Möglichkeit hat, Menschen kennen zu lernen, die oft unter großem Einsatz versuchen, die deutsche Sprache und die deutsche Literatur zu vermitteln, und es ist im Augenblick weltweit nicht leicht, obwohl es immer wieder schöne Erfolge gibt.

Mit dem Nobelpreis der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek wurde die österreichische Literatur ins Rampenlicht gestellt. Wie veränderte der Nobelpreis 2004 die Beurteilung der österreichischen Literatur in der westeuropäischen Literatur?
Es ist natürlich eine sehr zwiespältige Frage. Aus dem einfachen Grund, weil Jelinek immer wieder für Kontroversen gesorgt hat, und die bundesdeutsche Kritik sich sehr kritisch darüber geäußert hat. Sie spricht über eine Provinzliteratur und hat auch gemeint, dass diese Autorin eigentlich nur für eine Region schreibt, die nur durch die Alpen gekennzeichnet ist. Es war eine sehr bedenkliche Reaktion, und die Presse hat dieser Autorin sehr wehgetan. Meines Erachtens geht es hier um eine Autorin, die wirklich genau weiß, wie prekär die Situation der Literatur ist und wie prekär die Situation der Sprache ist. Der Nobelpreis bestätigt, wie Jelinek auf die Sprache angewiesen ist, und wie die Sprache – wie sie sagt: „die Sprache steht mir im Weg und ich bin weg, die Sprache steht mir im Weg, die Sprache ist weg“ – sie behindert. D.h. einerseits steht mir die Sprache im Weg, ich komme um sie nicht herum, und auf der anderen Seite ist sie weg, ich habe sie nicht mehr, und diese Ambivalenz, die Jelinek in diesem Fall anspricht, betrifft in der Literatur letztlich überhaupt alles und jeden. Literatur beschäftigt sich mit den fundamentalen Problemen unserer Gesellschaft und mit unserer philosophischen Befindlichkeit. Es geht hier nicht nur um eine österreichische Provinzliteratur, sondern es geht sehr wohl um Erkenntnisprobleme, es geht um gesellschaftliche Probleme, um die Probleme der Frau in der Gesellschaft. Das bestätigen hier allmählich diejenigen Kritiker, die von der Literatur etwas verstehen, auch z.B. in Russland oder in Amerika. Sie haben doch die Autorin auch kontextualisiert, im Kontext gewürdigt. Ich halte es für eine sehr mutige Tat der Schwedischen Akademie, einmal nicht auf die traditionelle Verdächtigung, jemand ist Nobelpreis-verdächtig, zurück zu greifen, sondern einmal eine Frau zu nehmen, die wirklich sehr viel Mut hat. In Österreich hat das natürlich einen Reflex ausgelöst, der ziemlich zwiespältig war. Man musste aber irgendwie Stellung dazu nehmen, weil es doch eine Großtat für Österreich war, diesen Nobelpreis zu bekommen.

Worin besteht der Unterschied zwischen der österreichischen und der deutschen Literatur?
Die österreichische Literatur wird ebenso in deutscher Sprache geschrieben wie die Literatur der Bundesrepublik. Wir haben natürlich auch eine slowenische, magyarische und kroatische Minderheit, die auch jeweils ihre Sprache spricht, aber hauptsächlich wird die österreichische Literatur natürlich in deutscher Sprache geschrieben. Infolge dessen kann man sagen, dass es keinen großen Unterschied gibt. Ich würde aber sagen, dass die österreichische Literatur auf ganz andere Fragen antwortet, eine andere gesellschaftliche, politische, historische Natur hat als die deutsche. Man darf wirklich nicht vergessen, dass seitdem 1804 Österreich sich von dem Deutschen Reich getrennt hat, diese Trennung gerade in der gesellschaftlichen Hinsicht immer größer geworden ist. Der Unterschied wurde 1918, nachdem es den Kleinstaat Österreich und das große Deutsche Reich gab, noch radikaler, und diese Fortentwicklung hat sich in der Zweiten Republik in Österreich nach 1945 fortgesetzt. Es gab die DDR, es gab Probleme (wie z.B. die revolutionäre Studentenbewegung 1968), die Österreich nicht betroffen haben. Die österreichische Literatur reagiert viel weniger auf politische Fragen, sondern konzentriert sich vielmehr auf innenästhetische Fragen, wie zum Beispiel im Fall von Elfriede Jelinek, bei der die Sprachproblematik im Vordergrund steht, während bei den deutschen Autoren tatsächlich die Dialektik, die Geschichte, die Veränderung der historischen Situationen im Vordergrund stehen. Meiner Meinung nach ist der Unterschied nach der so genannten Wiedervereinigung 1990 noch stärker geworden, und das bedeutet, dass sich die österreichische Literatur mehr und mehr von der deutschen entfernt und der Fall der Provinzialisierung irgendwie doch aufgegeben und dann von den Autoren wettgemacht wurde, wie die jüngsten Erfolge einiger Autoren beweisen. Die österreichische Literatur muss auch deswegen anders beachtet werden, weil der politische, historische, soziale Rahmen einfach anders ist und daher die Autoren natürlich anders reagieren.

Sie haben in einem Interview bezüglich des Nobelpreises für Jelinek und ihres speziellen Heimathasses der Zeitung Die Welt erklärt, dass „die Misantropie eine österreichische Tugend ist, sie entsteht meist aus Philantropie.“ Dabei wurden auch die Namen Nestroy, Karl Kraus, Thomas Bernhard und Peter Handke erwähnt. Wäre die Misantropie allein genug, um diese Schriftsteller als speziell österreichisch zu charakterisieren?
Die Misantropie ist sicher nicht das einzige Wesensmerkmal, aber ich werte es positiv. In dieser Skepsis gegenüber den Mitmenschen, tiefes Misstrauen gegenüber einem Selbstausdruck. Diese Misantropen hassen nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst und in den Reimen des wunderbaren Theaterstücks Alpenkönig und der Menschenfeind von Raimund zertrümmert ja dieser Menschenfeind im Spiegel das, was er selber sieht. Die Misantropie ist nicht ein wesentliches Merkmal, es deutet lediglich an, dass bei den österreichischen Schriftstellern eine fundamentale Skepsis vorhanden ist, die literarisch produktiv wird. Ein Zweifel an meinen Fähigkeiten, an den Fähigkeiten der anderen, dieses Sich-Zurückziehen auf die bescheidenste Position, sich klein machen, was auch bei Kafka und Grillparzer beobachtet werden kann. Dieser radikale Zweifel prägt sich an dem Selbst und auch an dem Anderen aus, zeugt manchmal von einer tief resignierenden Literatur. Johann Nestroy meinte sehr schön: „Die edelste Nation ist die Resignation.“

Wo steht die österreichische Literatur heutzutage? Wie sieht es bei der jungen Generation aus, die Sie mit Ihren Kritiken, Rezensionen fördern? Ich denke hier an z.B. Franzobel, Daniel Kehlmann oder Arno Geiger.
Die österreichische Literatur nach 1945 ist zu einem der besten Exportartikel des Landes geworden. Das hat sich 1995 auf der Frankfurter Buchmesse gezeigt, wo Österreich das Bezugsland war. Sie ist vielleicht auch etwas überbewertet worden, manchmal haben die deutschen Verlage eine „Affenliebe“ für die österreichischen Autoren, aber man darf nicht vergessen, dass die Autoren in Österreich tatsächlich sehr viele literarische Verfahren erfolgreich erprobt haben. Es gab hier eine sehr konstruktive Avantgarde, ich denke an die Wiener Gruppe und Ernst Jandl, in der das Interesse und vor allem die Produktion von neuen Verfahren entstand. Etwa bei den publikumswirksamen Lyrikern, wie Ernst Jandl, der wirklich die Massen begeistern konnte und eine neue Art Lesekultur schuf.
Alles hat dieser Literatur eine sehr singuläre Geltung verschafft, und nun hat die junge Generation an der Problematik anzuknöpfen. Sie können nicht die Literatur dauernd erneuern. Man kann nicht ständig von der Innovation (Schlagwort der 70er Jahre) leben und das ist das Problem, das die Autoren der jungen Generation ausgezeichnet hat. Man muss irgendwie schauen, wie man mit der Vergangenheit zu Rande kommen kann. Franzobel ist beispielsweise sehr postmodern, er variiert zugleich eine Reihe literarischer Verfahren, aber auch das, was die Wiener Gruppe in der Avantgarde-Formation geleistet hat, integriert er in diese Verfahren spielerisch. Die junge Generation profitiert sich sehr viel aus der Tradition von Roth Musil, Artmann, Jandl, die den jungen Autoren als eine Bezugsquelle dienten. Man kann heute von einer Art Literaturmix sprechen.