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Popliteratur
Vortrag von Primus-Heinz Kucher an der Juhász Gyula Pädagogischen Hochschulfakultät
Autorin: Bernadett Paor-Smolc
Das Sommersemester 2005/2006 war ein interessantes und turbulentes Semester, was die kulturellen Veranstaltungen betrifft. Viele bekannte Professoren aus verschiedenen Universitäten suchten unsere Stadt und unsere Universität auf, um interessante Vorträge zu halten. Unter ihnen war Ao. Univ. Prof. Mag. Dr. Primus-Heinz Kucher, dessen Vortrag ich mir an der Juhász Gyula Pädagogischen Hochschulfakultät der Universität Szeged anhören konnte. Das Thema seines Vortrags war Popliteratur. Die Zuhörer bekamen einen Überblick über die Literatur der sog. „Popgeneration”. Die Popliteratur geht auf die Beat Generation in den 1940er und 1950er Jahren in den USA zurück. Eine Gruppe bildete sich, die sich den Ausdruck des spezifischen Lebensgefühls der Jugendlichen zum Ziel setzte. Diese Stilrichtung verbreitete sich auch in Deutschland. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre, die Studentenunruhen und die 68er Bewegungen hatten eine Auswirkung auf die Verbreitung und Bedeutung der Popliteratur in Deutschland. Ihre Vertreter wollten sich von der scharf kritisierten Elterngeneration abgrenzen. Diese jungen Schriftsteller behandeln sich selbst und ihre kleinen Sorgen mitten im Luxus als Hauptthema.
Benjamin von Stuckrad-Barre, Thomas Brussig, Karin Duve, Christian Kracht, Julia Franck, Birgit Vanderbecke, Elke Naters, Juli Zeh und Alexa Hennig von Lange waren die wichtigsten Autoren in den 1990er Jahren, die für diese Bewegung von Bedeutung waren. Wichtige Faktoren dieser Literaturszene sind Musik, Drogenkonsum, Reisen sowie die Verarbeitung sekundärer Lektüren. Ursprünglich bezeichnete der Terminus Popliteratur 1968 literarische Strömungen, die ihre nationalsozialistische Vätergeneration verurteilten und einen Weg zur Befreiung suchten. Im Mittelpunkt ihrer Werke steht ihre Person selbst. Am Anfang war Popliteratur eine Oppositionsbewegung, später mündete sie in eine Abgrenzung von den anderen. Mit einer am Alltag orientierten Sprache wollen die Autoren der 90er Jahre das Lebensgefühl einer gesellschaftlichen Gruppe wiedergeben. Die literarische Sprache wird dem Lebensstil angepasst.
Prof. Kucher erwähnte einige Beispiele aus der Szene der Popliteratur. Das Werk „Re-Mix” von Stuckrad-Barre befindet sich zwischen Realityshow und Entspannungsliteratur. In Juli Zehs Werk „Adler und Engel” (2001) wird die Ich-Bezogenheit betont. Hier wird von Koksern und Dealern, Lieben und Sterben erzählt. Das Projekt des Kulturtagebuches von Max Goldt ist auch eine wichtige Ausdrucksform der Szene. Christian Krachts „Faserland” beschreibt eine ziellose Reise in Deutschland und formuliert die Geschichte einer Jugend. In Matthias Polityckis „Weiberroman” kommen für literarische Texte ungewöhnliche Formen vor, wie eigenwillige temporale Sprünge, Einbau von Dialektstücken, sog. „Austriazismen”, eigenwillige Beistrichsetzung und Textauslöschungen. Es ist auch nicht untypisch für Politycki, dass er die Sätze mit einem Beistrich anfängt. Elke Naters „G.L.A.M.” ist eine 150seitige Kollage aus Zitaten und Bildern. Es ist ein Tagebuch, Reisebuch, Skizzenbuch, Bilderbuch und Blätterbuch über Freunde, Vertrauen, Fehler, Feiern, Verzweiflung, Fremde, Freude, Familie, Fashion und Fettwerden. Als Geld-Liebe-Arbeit-Meer oder Grau-Lustig-Armband-Mutter können die Buchstaben G.L.A.M. assoziiert werden. Es ist ein Buch der Lebenskunst. Katrin Rögglas „Wir schlafen nicht” (2004) verwendet auch eine ungewöhnliche literarische Form. Das Werk enthält 32 Kapitel, in denen Interviews mit Vertretern der Consulting-Branche gelesen werden können. Hier kommt der Druck in der Arbeitswelt zum Vorschein. „Lebensabschnitts-Partnerschaften” und „Lebensabschnitts-Arbeitsbeziehungen” werden geschildert. Nach der Frankfurter Rundschau wird Röggla als „Wahrnehmungsartistin” bezeichnet. Es gibt verschiedene Methoden, die Realität auffassen und sprachlich wiedergeben zu können. Einige Autoren verwenden das Archivierungsprinzip (Kulturtagebuch schreiben), andere suchen einen medienästhetischen Zugang in ihren Texten.
Wir hörten von Professor Kucher eine schöne Zusammenfassung über diese literarische Epoche. Wir konnten einen Einblick in diese Welt der Popgeneration bekommen und wir lernten verschiedene literarische Versuche kennen, mit denen die Autoren ihr Lebensgefühl, eine Zeitdiagnose und ihre Persönlichkeit wiedergaben. Er konnte mit seinem amüsanten Vortragsstil unser Interesse erwecken, die Werke der bisher unbekannten Autoren zu lesen.
Primus-Heinz Kucher studierte Geschichte, Germanistik und als Nebenfach einige Semester Romanistik an der Universität Klagenfurt. Einige Jahre war er als Lektor an der Universität Pisa tätig. Seine Promotion zum Dr. phil. erfolgte 1984. Seine Dissertation hatte den Titel „Herrschaft und Protest. Literarisch-publizistische Öffentlichkeit und politische Herrschaft in Oberitalien zwischen Romantik und Restauration 1800-1847.” Er ist im Beirat und Mitarbeiter zahlreicher Gesellschaften und Vereine (Theodor Kramer Gesellschaft, Internationale Charles Sealsfield Gesellschaft usw.). Er ist Mitglied der Forschungskommission der Universitätsversammlung und Vorsitzender des UniversitätslehrerInnenverbandes. Zu seinen Funktionen gehört die Sokrates/Erasmus Koordination des Instituts und die LektorInnenaus- und -fortbildung. Als Gastprofessor betätigte er sich an der Uni Udine, Genua, Halden und Oslo. Er publizierte mehrere Bücher: „Ungleichzeitige/verspätete Moderne. Prosaformen in der österreichischen Literatur 1820-1880“; „Literatur und Politik zwischen Vormärz und Neoabsolutismus“. Seine Forschungsschwerpunkte sind österreichische und deutsche Literatur im 19. und 20. Jh., Exilliteratur, deutschsprachige jüdische Literatur, mehrsprachige und literarische Übersetzung. Literarische Öffentlichkeit, Triester Literatur im 20. Jh. und literarische Edition.
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