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Zeitung << 2/2005 << Märchen – nicht nur für Kleinkinder


Märchen – nicht nur für Kleinkinder
Ein außergewöhnliches Sprachübungsseminar mit Marianne Keßler

Autor: Christoph Seifert

Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, gehört dem Könige von Hannover, und enthält 999 Feuerstellen, diverse Kirchen, eine Entbindungsanstalt, eine Sternwarte, einen Karzer, eine Bibliothek und einen Ratskeller wo das Bier sehr gut ist. (…) Die Stadt selbst ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht. (Heinrich Heine: Die Harzreise)

So weit die Meinung eines prominenten Göttinger Studenten über seinen Studienort. Für Heine war die Atmosphäre der Stadt im Süden Niedersachsens reichlich drückend und provinziell. Doch er muss sich getäuscht haben. Das trilaterale Forschungsseminar in Göttingen, in dem Studierende der Germanistik und Komparatistik aus drei Nationen über die Grenzen hinweg gemeinsam Literaturwissenschaft betrieben und sich über die Studienbedingungen in ihren Ländern austauschten, hat gezeigt, dass auch in Göttingen problemlos ein internationales Flair entstehen kann. Wie sah das vergangene trilaterale Seminar 2005 aus der Perspektive der „Gastgeber“ aus?
Die Vorbereitung auf den inhaltlichen Teil begann für uns (eine Gruppe von sieben Studentinnen und einem Studenten unter der Leitung von Torsten Hoffmann und Tom Kindt) gegen Ende des Sommersemesters. Es war ein Text auszuwählen, vorzubereiten und eine Präsentation über die Studienbedingungen in Göttingen zu erstellen. Daneben wollten die Texte der ungarischen und polnischen Gruppe vorbereitet werden (Boleslaw Prus: „Die Puppe“ und Géza Ottlik: „Schule an der Grenze“). Unsere Wahl fiel auf den Roman „Heißer Sommer“ von Uwe Timm – in dem der Protagonist sich reichlich lax mit seinem Germanistikstudium befasst. Die Präsentation der aktuellen Studienbedingungen, so wurde es beschlossen, sollte in Form eines Films geschehen. Also begann mit Abschluss des Sommersemesters 2005 und dem Anfang der Sommerferien die Arbeit daran. Interviews mit Kommilitonen mussten auf verschiedenen Partys geführt, der Charme der Universität und der Stadt musste mit der Handkamera auf Zelluloid gebannt werden und schließlich der Film digital geschnitten werden – eine Mammutaufgabe, die hauptsächlich an unserer Regisseurin Sarvin hängen blieb. Je näher das Seminar rückte, umso hektischer wurde die Arbeit.

Sonntag, der 2.10. kam – und auch unsere Gäste. Als wir uns gegen 10.00h im Gebäude des Deutschen Seminars einfanden, war die polnische Gruppe bereits da, ein wenig übernächtigt und angestrengt von der langen Reise. Während einige begannen das Eröffnungsfrühstück vorzubereiten, machten sich andere auf den Weg zum Bahnhof um die ungarische Gruppe sicher durch die Stadt zum Seminar zu geleiten – auch hier waren sowohl Teilnehmer als auch Leiter von der Reise im Liegewagen müde. Im Verlauf des Frühstücks wurden erste Hemmungen abgebaut und die Atmosphäre begann aufzutauen. Das Programm wurde verkündet und damit war der erste offizielle Programmpunkt vorbei. Eine geplante Stadtführung wurde wegen Müdigkeit auf den nächsten Tag verschoben, wer wollte konnte sich noch kurz unter Leitung der Gastgeber in der Stadt orientieren. Für Polen und Ungarn ging es danach zum Einchecken in die leider ein wenig abseits gelegene Jugendherberge. Der Nachmittag dieses Sonntags wurde wohl von den meisten zum Schlafen genutzt – jedenfalls von mir; schließlich mussten zur am Abend anstehenden ersten Kneipenbesichtigung alle Kräfte wieder regeneriert sein.

Montag, 3.10., Tag der deutschen Einheit: „Aua, mein Kopf!“ Das muss mein erster Gedanke am Montagmorgen gewesen sein. Der Abend im „Feuerstein“ war mir noch in guter Erinnerung: Beim gemeinsamen Bier war es zu den ersten interkulturellen Gesprächen mit unseren liebenswerten Gästen gekommen. Nachdem das gemeinsame Programm nicht allzu spät zu Ende gegangen war, war ich wohl noch länger unterwegs gewesen…
Aber es half nichts: das Seminar fing ja heute erst richtig an. Also ab in die Uni und an die Arbeit. Auf dem Programm stand die Diskussion der polnischen und ungarischen Texte. Zunächst Prus’ „Die Puppe“: In Kleingruppen erschlossen wir uns den Text, hörten danach Referate der polnischen Studierenden und diskutierten. Im zweiten Teil begann dann unter ungarischer Leitung die Arbeit an meinem Favoriten des Seminars: Géza Ottliks „Schule an der Grenze“. Die spannende Abschlussdiskussion umkreiste die poetologischen Reflexionen im Text, intertextuelle Bezüge, pädagogische Probleme und vor allem die Frage: „Wer ist eigentlich René Rilke?“.
Nachmittags folgte dann eine kurze Stadtführung und, nach so viel Bildung, Freizeit bis zum Abend. Bei der gemeinsamen Feier in der „Notaufnahme“ des Deutschen Seminars schließlich merkte man, wie gut die Gruppe harmonierte – bei guter Musik und Getränken klang der Abend mit Gesprächen in entspannter Atmosphäre aus.

Dienstag, 4.10., Tag der Filmvorführung: Heute war es soweit: Nach der Seminarsitzung zu Uwe Timms „Heißer Sommer“ sollten am Abend die Präsentationen zu den aktuellen Studienbedingungen in Ungarn, Polen und Deutschland mit unserem Film beginnen. Zusammen mit der Regisseurin Sarvin kam der Film direkt vom Schnittplatz in den Seminarraum. Und das Verhängnis nahm seinen Lauf – die Technik streikte. Über eine Stunde bemühten wir uns, mit wachsender Hektik die Verbindung aus Fernseher, Laptop, Stereoanlage nach unseren Bedürfnissen einzustellen. Als der Film schließlich irgendwie lief, lagen unsere Nerven blank, und die Frustration über die verzögerte Vorführung trübte die Zufriedenheit über das cineastische Meisterwerk ein wenig. Aber nur ein wenig: Einige von uns bereiteten den Tag im kleinen Kreise noch nach, entspannten sich und landeten doch noch irgendwie im „Thanners“, einer der Göttinger Kneipen, wo sich auch Teile der ungarischen und polnischen Gruppe aufhielten - es wurde ein schöner, ein langer Abend.

Mittwoch, 5.10., Tag der Präsentationen: Die multimedialen Präsentationen der polnischen und ungarischen Studierenden, die heute auf dem Programm standen, machten die großen Unterschiede deutlich, die es zwischen den drei Ländern im Hinblick auf die Organisation des Studiums und das studentische Leben gibt. Die Highlights dieses Tages waren sicherlich die Präsentation der polnischen Studenten über die Wohnheime in Torun, aber auch die extrem unterhaltsame Vorstellung des Germanistischen Magazins an der Universität Szeged. Neben den Unterschieden brachte die Abschlussdiskussion auch viele Gemeinsamkeiten zum Vorschein. Mit dem Ende dieses letzten Programmpunktes war der inhaltliche Teil des Seminars beendet.
Was uns noch bevorstand war die ultimative Abschiedsparty. Es galt, nach den vergangenen Abenden nun noch einmal alle Kräfte zusammen zu nehmen. Die vergangenen Abende hatten ihren Tribut gefordert. Noch einmal kurz schlafen und dann alles für die Party vorbereiten, für die Kim und Sarvin freundlicherweise ihre Wohnung zur Verfügung stellten. Das rauschende Fest ist sicherlich noch allen in guter Erinnerung. Es wurde viel gelacht (woran der von Attila für die Gastgeber gestiftete Fernet Branca sicherlich nicht ganz unschuldig war), unsere Gäste beschenkten uns reichlich, es gab Essen, Livemusik und gute Stimmung bis in die frühen Morgenstunden.

Mit dieser Party und der Abreise unserer Gäste am Morgen des folgenden Tages ging ein gelungenes trilaterales Forschungsseminar zu Ende. Alle Teilnehmer haben in diesen vier Tagen ihre Perspektiven auf Literatur und das Studium in anderen Ländern erweitern können. Aber auch das Wichtigste, die interkulturelle Kommunikation sowohl innerhalb als auch außerhalb der Seminarsitzungen, kam nicht zu kurz. Wir danken allen Organisatoren und Teilnehmern, freuen uns auf ein Wiedersehen 2006 in Szeged und hoffen, dass Göttingen den ungarischen und polnischen Teilnehmern nicht als eine Stadt im Gedächtnis bleibt, die man gerne „mit dem Rücken“ ansieht.