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Zeitung << 2/2005 << Märchen – nicht nur für Kleinkinder


Märchen – nicht nur für Kleinkinder
Ein außergewöhnliches Sprachübungsseminar mit Marianne Keßler

Autorin: Anna Simon

Es war einmal eine junge Lektorin, die die Entscheidung traf, ihre Sprachübung den Märchen zu widmen. Sie fand zehn Teilnehmer, alle aus dem ersten Studienjahr. Ich war eine von ihnen. Vorher kannte ich zwar Marianne nicht, aber es interessierte mich, die Lehrveranstaltung einer echten deutschsprachigen Seminarleiterin besuchen zu können – vielleicht hatten meine Studienkollegen auch den gleichen Gedanken.

So hatte meine Wahl nichts mit Märchen zu tun. Erst in der ersten Sitzung erfuhren wir, dass wir uns das ganze Semester lang mit diesem Thema beschäftigen werden. Zuerst waren wir ein bisschen überrascht: Märchen? Wieso? Warum? Es ging gar nicht darum, dass wir die Märchen nicht mochten. Nein. Da wir im Sommersemester 2004/2005 vier Monate vor der Grundprüfung standen, rechneten wir mit viel ernsteren und schwierigeren Dingen. So kann man verstehen, dass wir uns erleichtert fühlten. Märchen sind etwas, was allen Menschen nahe steht. Es sind grundsätzliche Teile unseres Lebens – alle waren schließlich einmal Kinder. Jeder erlebte oder erlebt noch heute seine Freude an diesen wunderschönen, zauberhaften, mitreißenden Geschichten, die keine Grenzen kennen. Dornröschen, Aschenputtel, Rotkäppchen… Ich könnte die Liste stundenlang fortsetzen. Wir kennen sie in- und auswendig. Aber mit Marianne konnten wir einen Einblick in den Hintergrund gewinnen. Die Bedeutung von Zahlen, die übernatürlichen Gestalten, die charakteristischen und oft vorkommenden Ereignisse und die immer zurückkehrenden Motive wurden durchgesprochen. In der Form eines Referats sollte sich jeder Seminarteilnehmer in ein gewisses Thema vertiefen. Wir lernten die Lebensläufe von einigen berühmten Schriftstellern wie Hans Christian Andersen, den Gebrüder Grimm, Clemens Brentano, Adelbert von Chamisso, Ludwig Bechstein bzw. dem 1995 verstorbenen Michael Ende kennen. Erst hier vernahm ich zum Beispiel, dass Andersen auch einige kurze Gedichte geschrieben hat. Wir betrachteten auch, welche Unterschiede es gab zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen, bzw. zwischen den klassischen und den modernen Märchen von heute. Happy End, einfache Sprache und übernatürliche Figuren sind Eigentümlichkeiten der alten klassischen Volksmärchen. Dagegen sind Kunstmärchen real, oft mit keinem Happy End, mit keinen Anfangs- und Endformen und mit keiner einfachen Sprache. Das Wort ’Mär’ oder ’Maer’ selbst stammt aus dem Mittelhochdeutschen und hat die Bedeutung: kleine Erzählung oder Nachricht. Die Geschichten selbst beruhen auf alten Legenden und Volksglauben, außerdem, wenn der Verfasser bekannt ist, in nicht geringem Maß auf seiner eigenen Phantasie und auf seinen ei­genen Erfahrungen. Zuallererst konzentrierten wir uns auf deutschsprachige Märchen aber wir lasen auch ein malaiisches, ein amerikanisches und ein arabisches, was uns wirklich Spaß machte. Besonders war an den ersten zwei, dass sie durch eine sehr treffende aber erfundene Geschichte eine Naturerscheinung erklären wollten. Das malaiische Märchen mit dem Titel „Sonne, Mond und Hahn“ (vgl. den Rahmentext) erläutert, warum der Hahn jeden Morgen kräht, wenn die Sonne aufsteht. Das amerikanische erzählt, was die Sterne des Großen Wagens oder des Großen Bären am Himmel symbolisieren: vier Sterne zeigen den Bären, der von drei anderen Sternen, den drei Jägern verfolgt wird. Als Übung für die Grundprüfung brachte unsere Lektorin einige Quizaufgaben mit, die der Wortschatzerweiterung dienten. Wir lösten auch ein paar Leseverstehen-Texte aus den vorigen Jahren. Unsere Hausaufgaben von Stunde zu Stunde waren Überschriften zu schreiben, Zusammenfassungen zu machen und zu uns unbekannten Märchen einen Anfang oder eben ein Ende herauszufinden. Im Großen und Ganzen bin ich der Meinung, dass wir uns bei Marianne für sehr nützliche und angenehme Stunden bedanken können. Sie setzte den Akzent auf die Hauptsache dieser Lehrveranstaltung: Viel zu sprechen – und wenn es möglich ist, über solche Dinge, mit denen wir uns gerne beschäftigen. Es stellte sich heraus, dass ihre Idee toll war; so lebten wir vergnügt bis an das Ende des Semesters.



Sonne, Mond und Hahn
Malaiisches Volksmärchen

Die drei Götterkinder Sonne, Mond und Hahn lebten anfangs als Brüder einträchtig beieinander. Eines Tages ging die Sonne aus, Mond und Hahn blieben zu Hause. Da befahl der Mond dem Hahn, er möchte die Rinder hereinholen, doch der weigerte sich. Der Mond wurde darob böse, fasste ihn beim Schopf und warf ihn auf die Erde hinunter. Als die Sonne heimkam, erzählte der Mond ihr den Vorfall. Die Sonne wurde betrübt und sagte: „Du kannst nicht in Eintracht leben; schön, dann will ich auch nicht mehr mit dir ausgehen. Fortan gehört dir die Nacht und du darfst erst des Abends ausgehen. Der Tag jedoch ist mein. Und der Hahn wird mich niemals vergessen, denn ich habe ihn nicht vertrieben und liebe ihn noch immer. Auch will ich’s nicht haben, dass er ausgeht oder kräht, wenn du unterwegs bist.“ Der Hahn befolgte die Anweisungen der Sonne. Jedes Mal, wenn die Sonne morgens aufsteht, freut er sich, sie zu sehen; er erinnert sich daran, dass sie sein älterer Bruder ist, er schaut zu ihr auf und ruft den Tag über unaufhörlich „Kikeriki!“ zur Begrüßung. Aber wenn die Sonne untergegangen und der Mond an der Reihe ist, dann begibt sich der Hahn schnell ins Haus, um den Mond nicht zu sehen.