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Zeitung << 1/2005 << Rothfuß redet, Linkenheil liebt und „Leila lacht“


Rothfuß redet, Linkenheil liebt und „Leila lacht“
Gedanken zur Lesung von Uli Rothfuß und zur Lektüre des Bandes „Leila lacht“

Autorin: Emília Bata

Geschichte ohne Geschichte
Meine erste Idee war: wo ist die Geschichte? Es gibt keine! Es ist doch Unsinn. Hier gibt es nämlich Gedankenfetzen, oft nur schwer verständliche, symbolische Gedankenfetzen.


Kriminaldienst
Rothfuß war nach der Ausbildung zum Polizei- und Kriminalbeamten in diesem Beruf tätig. Was er damals gelernt hat, nutzt er heute immer noch: er recherchiert sehr gründlich, bevor er zu schreiben beginnt. Jetzt ist er Professor für Literatur- und Theatererziehung an der Pädagogischen Hochschule Eupen und für angewandte Kulturwissenschaften an der Universität Karlsruhe. Er lebt in Calw und ist dort auch als Kulturdezernent der Hermann-Hesse-Stadt tätig. Er wollte etwas anderes als Kriminaldienst machen und studierte Germanistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Leicester/Großbritannien. Er mag besonders die Schreibwerkstätten, an denen Studenten verschiedener Fächer und sogar 60-jährige Leute teilnehmen.

Melancholie
In der Grundhaltung sind Rothfuß und Linkenheil nicht unähnlich, wie sie die Welt betrachten, wie sie dieses Hin- und Hergerissensein erleben. Beide halten es für wichtig, die Landschaft kennen zu lernen, zu einer Heimat zu gehören.

Hellblau
Dieses Gefühl ist hellblau. Ich lese das Buch „Leila lacht“ und spüre diese Farbe. Aber woher kommt das? Wieso kann mich ein Buch bewegen, hellblau zu fühlen? Ich grüble minutenlang, was mich melancholisch macht und was mich hellblau fühlen lässt? Dann sehe ich den Umschlag des Werkes: Dieses Buch ist wirklich hellblau.


Geschichte ohne Geschichte
Es war Absicht. Rothfuß wollte probieren, aus Momentaufnahmen einen Roman zu schaffen. Das Buch ist ein Mosaik, das aus kleinen Teilen besteht, zwischen denen man die Beziehung während des Lesens noch nicht erkennt. Wenn man aber das Buch bis zum Ende liest und das Mosaik aus einem gewissen Abstand betrachtet, erkennt man das Bild, das sich aus den einzelnen Teilen zusammensetzt.

Linkenheil
Es ist nicht wichtig, wie Linkenheil aussieht. Er schreibt viel und mag nicht jeden Tag im Büro arbeiten. Wichtig ist der konzentrierte Blick nach innen, in die Gedanken und Gefühle des Protagonisten. Dagegen werden alle Frauen nur in der Form beschrieben, was für Augen und Haare sie haben.

Erlebnisse
Jedes Buch besteht aus realen und fiktiven Teilen. Linkenheil ist eine fiktive Person, die einige reale Episoden von Rothfuß erlebt, zum Beispiel die Aufenthalte in Russland und in Baku. Rothfuß hat immer ein Notizbuch dabei, das ein Fundus an Ideen und kleinen Geschichten ist, aus denen man später Bü­cher und Theaterstücke schreiben kann. Von diesen Geschichten und Erlebnissen kann man aber nicht alles benutzen, einiges muss man natürlich auslassen.

Budapest und die kleine Ungarin
Merkwürdig: Immer wieder war sein Fluchtpunkt Budapest. Erinnerungen an Zeiten, bevor er Leila kannte: an die kleine Ungarin, an ihre spontane Art, loszurennen. An seiner Hand zu ziehen und loszurennen, oder: das Haar in den Nacken zu werfen und ihn dabei anzulachen. Er traf sich mit ihr im Eckermann in der Andrássi Sugárút, sie tran­ken Kaffee, sprachen über Literatur, über die so sehr verschiedenen Sprachen Ungarisch und Deutsch; er lernte erste Wörter, unterhielt sich mit ihr über Heimat und das, was sie ihnen bedeutete. Sie würde nie woanders leben können, sagte sie, meinte auch, sie würde in keiner anderen Sprache schreiben wollen.


Marionetten
Die Figuren sind für Rothfuß als Autor Marionetten, die aber oft ihre eigene Dynamik bekommen. Sie bekommen einen anderen Charakter, worauf man reagieren muss. Aber diese andere Richtung ist gar nicht schlimm, es ist wie das Leben.

Keine Dialoge
Linkenheil denkt oft nach, er führt Gespräche mit sich selbst. Er sitzt häufig am Fenster und beobachtet die Menschen, die Natur. Als er zu Hause ist, „benutzt“ er das frühere Arbeitszimmer von Rothfuß. Die Aussicht aus dessen Fenster ist genau das, was Rothfuß sehen kann: eine Gasse und eine daran anschließende Fußgängerzone, wo Mütter und Kinder spazieren. Außerdem wollte Rothfuß nach einem Theaterstück etwas machen, in dem keine Dialoge vorkommen. Der Dialog gibt die Dynamik eines Textes vor, deshalb ist dieses Buch relativ ruhig, lebt aber am Ende auf.

Ganz langsam
Das Buch erweckt in uns keine starken Ge­fühle, obwohl es hier um eine Liebesge­schichte geht. Sie ist leidenschaftlich, aber nicht zu frech. Sie ist nicht langweilig, aber tief­gründig und warm. Die Stimmung des Buches sinkt durch die Gedanken und Gefühle Linkenheils langsam in unser Unterbewusstsein und verändert unsere Laune. Sie strahlt Ruhe aus und zeigt uns die Schönheit der Natur, die wahre Werte der Welt.


Frühjahr
Linkenheil konnte sich kaum an ein früheres Jahr erinnern, in dem er das Aufbrechen der Knospen an den Bäumen so herbeigesehnt hatte wie in diesem. Seit Wochen schon stand er immer wieder an seinem Fenster, blickte hinüber zu den Ahornbäumen auf der anderen Seite des Bahndamms und wartete darauf, dass die Triebe an den Bäumen aufbrachen. Er stellte sich den Sessel vor das Fenster und beobachtete sie, als könne er ihnen dadurch Leben einhauchen. Lange Zeit ragten die dürren Äste einsam und wirr in den aschgrauen Himmel, kaum dass einmal ein fetter Rabe darauf Platz nahm, nachdem er sich im Nachbargarten an den vergammelnden Speiseresten des portugiesischen Ladens vollgefressen hatte.
Jeden Morgen an diesen Tagen war Linkenheils erster Blick nach dem Aufwachen zum Fenster hinaus, ob die Son­ne heute schien; dann hoffte er, dass es ihr gelänge, die Triebe aus den Ästen hervorzulocken.


Reisespiel
Das Reisespiel von Linkenheil zeigt die Ambivalenz zwischen Heimat und Weg, die Heimat repräsentiert die Zurückgezogenheit, der Weg die Welt. Er braucht beide, um leben zu können. Es ist aber auch ein Paradox: wenn er zu Hause ist, will er gleich weg; wenn er auf der Reise ist, möchte er nach Hause fahren.

Aufhören
Man kann das Lesen des Buches jederzeit abbrechen und dann neu beginnen. Die kleinen Kapitel sind nämlich wie Gedichte.


Gedichte
Für ihn war es eine List geworden, den Tücken des Alltags zu entgehen, zumin­dest denen der ersten Zeit nach dem Aufstehen: Er begann den Tag mit einem Gedicht. (…)
Jeden Tag mit einem Gedicht zu beginnen, hatte er sich vorgenommen; gab es einen besseren Entwurf des Lebens als diesen? Ein besseres Konzept, den Frieden in der Welt zu erhalten?


Veröffentlichungen
Rothfuß schreibt viele Prosawerke, aber auch Theaterstücke, weil sie – seiner Meinung nach – mehr Möglichkeiten bieten. Er hilft oft den Regisseuren. Es ist eine spannende Arbeit, sich umzusehen, wie aus einem Stück „Leben“ wird. Er schreibt immer abwech­selnd Romane und Theaterstücke, sonst wäre es zu anstrengend.

Zehn
Noch zehn Seiten. Es kommt. Es kommt etwas, etwas Schlechtes. Ich spüre es, es ist so traurig.


Treffen
Ihr könnt auch Herrn Prof. Rothfuß treffen. Er wird nämlich im September 2005 bei uns an der Uni in Szeged ein Seminar über kreatives Schreiben halten. Oder kann sein, dass ihr eben in dieser Lehrveranstaltung seid? Dann hört bitte mit dem Lesen der Zeitung auf und hört zu. Ich verspreche es euch – es lohnt sich.