Startseite | Impressum | Zeitung | Beiheft | Archiv nach Autoren | Archiv nach Rubriken








Zeitung << 2/2004 << Im Ausland daheim zu sein


Im Ausland daheim zu sein
Mit einem Erasmus-Stipendium in der Tschechischen Republik

Autorin: Éva Rózsás

Als Romanistik- und Germanistikstudentin habe ich mich regelmäßig um Stipendien beworben, aber ich habe nie an ein Erasmus-Stipendium gedacht, da ich immer gehört habe, dass man mit dem Geld nicht im Ausland überleben kann. Und es ist tatsächlich so, denn mit 240 Euro pro Monat ist es unmöglich in Deutschland oder in Frankreich normal zu leben. Im Juni 2004 habe ich dann zufälligerweise Marta Drsatova, die tschechische Lektorin der Universität Szeged auf einem Konzert getroffen. Es war fünf Jahre her, dass ich bei ihr Tschechischstunden nahm, weil ich einfach die Texte der Songs von Iva Bittova verstehen wollte. Zu dieser Zeit entstand meine Neigung zu Tschechien und obwohl ich nach einem Jahr mit Tschechischlernen aufgehört hatte, blieben diese Sprache und Kultur fest in meinem Gedanken hängen. Marta hat mir über die neueste Erasmus-Partnerschaft unserer Universität mit der Universität Masaryk in Brünn (Brno) gesprochen und mich beiläufig gefragt, ob ich daran interessiert wäre, weil sie die Slawistikstudenten wegen der Prüfungszeit nicht mehr benachrichtigen kann. Ich habe natürlich ja gesagt, und war ganz froh in der Tschechischen Republik Germanistik zu studieren und eine mir noch nicht bekannte Region Europas kennen lernen zu können.
Ich habe drei Monate in Brünn studiert und dadurch dieses typisch ostmitteleuropäische Land ein bisschen kennen gelernt. Ich habe gesehen, inwieweit Ungarn und Tschechien ähnlich und verschieden sind und was es heute bedeutet, dass diese Länder in der Zeit der k.u.k-Monarchie zu dem gleichen Kulturkreis gehörten. In diesem Land, weit weg von Ungarn, hatte ich endlich die Möglichkeit einige Fragen den Erasmus-Stipendiaten zu stellen – Fragen, die mich schon in Ungarn beschäftigten, als mich einmal deutsche Studierende in Szeged ansprachen: warum sie nach Ostmitteleuropa kommen, um hier zu studieren, was sie hier anzieht, und wie sie diese Region als Ausländer finden, wie es ihnen hier gefällt. Das folgende Interview habe ich mit fünf deutschen Studenten gemacht, die dank eines Erasmus- oder Socrates-Stipendiums einige Monate in Brünn verbrachten.

Wart Ihr schon vorher in Ostmitteleuropa?
Andrea: Meine Mutter ist gebürtige Tschechin, deshalb war ich sehr häufig in Tschechien, habe Kurzurlaube in Polen, der Slowakei und Weißrussland gemacht.
Lina: Ich war bisher nur in Urlaubsgebieten in dieser Region, wie an der polnischen Ostsee, am Balaton und im Thermalbad Zalakaros in Ungarn.

Warum habt Ihr als euer Erasmus-Zielland die Tschechische Republik gewählt?
Lina: Weil es ein Austauschprogramm zwischen der TU-Dresden und der MU gibt. Außerdem weil ich in der Nähe der tschechischen Grenze wohne und etwas über die Sprache und Kultur unseres Nachbarlandes erfahren wollte. Natürlich haben die günstigen Lebenshaltungskosten auch positiv zur Entscheidung für Tschechien beigetragen.
Thomas: Als Student der Betriebswirtschaftslehre erschien es mir sehr sinnvoll sich zumindest ein wenig für eines der neuen EU-Mitgliedsländer zu qualifizieren, da die wirtschaftlichen Beziehungen sich in der folgenden Zeit sicher enorm ausdehnen werden. So war die Wahl zwischen Ungarn, Tschechien und Polen zu treffen. Ungarn fiel bereits recht früh heraus, da ich die Absicht hatte, auch die Sprache zu lernen und die ungarische Sprache recht komplex ist. Ich entschied mich für Tschechien, da auf den Reisen, die ich in beiden Ländern gemacht habe, die Tschechen um ein Vielfaches freundlicher und aufgeschlossener gegenüber Fremden waren als die Polen.
Christian: Ich will die Sprache lernen, um in meiner Magisterarbeit auf tschechische Literatur zugreifen zu können. Eventuell möchte ich auch nach dem Studium in Tschechien arbeiten.

Was denkt Ihr über diese Region?
Oliver: Die Kultur dieser Region ist sehr alt und reich, die Leute sind viel offener und zugänglicher. Außerdem haben Theater und Museen hier einen höheren Stellenwert bei jungen Leuten, und es gibt gesellschaftlich mehr Kontakte zwischen älteren und jüngeren Leuten: Auch ältere Leute gehen oft ins Kaffeehaus oder ins Konzert. Es ist bemerkenswert, dass tschechische Studenten jedes Wochenende nach Hause fahren, zu Hause wohnen und auch mit 28 Jahren mit ihren Eltern in den Urlaub fahren.
Andrea: Tschechen sind zum Glück nicht so pünktlich wie die Deutschen, sie sind sehr gastfreundschaftlich, liebenswert, hilfsbereit und man fühlt noch die Prägung von kommunistischen Zeiten. Zum Beispiel wartet man noch an der Kasse/Haltestelle, ohne sich gleich zu beschweren.
Lina: Ich denke, dass diese Region sich gesellschaftlich und politisch an „westlichen“ Vorbildern orientiert, so scheint der Konsum immer wichtiger zu werden, und einige alte Traditionen scheinen leider immer mehr in Vergessenheit zu geraten.
Thomas: Ich mag diese Länder sehr. Kulturell werden sie bald wieder das Niveau erreichen, das sie in der Geschichte immer gehabt haben. Historisch gesehen war diese Region für lange Zeit ein kultureller Ideengeber und nicht -nehmer. Natürlich haben die Folgen des 2. Weltkrieges und der nachfolgenden sozialistischen Herrschaft hier Spuren hinterlassen, die zunächst beseitigt werden müssen. Wirtschaftlich sind diese Länder zum ersten Mal seit Jahrzehnten in der Lage zu zeigen, was sie wirklich können und das gelingt mit großen Wachstumszahlen auch eindrucksvoll. Leider hat hier binnen kurzer Zeit auch schon eine Politikverdrossenheit eingesetzt, die die in Westeuropa überschreitet. Niedrige Wahlbeteiligungen sind ein Warnzeichen. Dabei gibt es sicher nicht genügend Gründe so verdrossen zu sein, denn in den letzten 15 Jahren wurde Großes geleistet. Mental sind gerade Menschen im mittleren Alter anscheinend noch sehr von den Tagen ihrer Jugend, sprich sozialistischen Zeiten, geprägt. Zum Beispiel wird der Kunde in Geschäften häufig noch als Bittsteller und als eher störend behandelt. Dies ist für Westeuropäer sehr ungewohnt. Auch die Bürokratie und deren ausführende Personen sehen sich eher in einer Machtposition als Dienstleistungen für das Volk zu erbringen.

Wie stellt Ihr Euch Ungarn und die Ungarn vor?
Andrea: Ungarn soll kulturell und sprachlich sehr interessant sein, aber ich vermute, dass das Lebensniveau noch etwas niedriger ist als in Tschechien. Ungarn ist ein typisches Urlaubsland.
Oliver: Ungarn ist mehr touristisch, mehr landwirtschaftlich geprägt als Tschechien. Ungarn sind gut in Fremdsprachen, besser als Tschechen.

Was denkt Ihr über den Beitritt dieser Länder zur EU?
Oliver: Der Beitritt ist wichtig, die Stimmung in Deutschland in dem Bereich ist positiv im Allgemeinen, die Macht ist besser verteilt. Ich denke, dass Ostmitteleuropa ein ganz wichtiger Teil der europäischen Kultur ist.
Lina: Ich glaube, der Beitritt hat positive Auswirkungen, besonders auf die wirtschaftliche Entwicklung der Länder. Der Beitritt war sicher auch für die Touristik-Branche ein positiver Schritt, da dadurch die Bekanntheit der Länder steigt und mehr Menschen die neuen EU-Länder kennen lernen wollen.
Thomas: Es ist eine Chance und Herausforderung für beide Seiten. Die Europäische Union bekommt endlich die Möglichkeit nicht mehr nur westeuropäischer, sondern wirklich europäischer Staatenbund zu sein. Ich denke, mit dieser Osterweiterung der EU ist ein Krieg in der Mitte Europas nun endgültig unmöglich geworden. Wollen wir hoffen, das diese friedensstiftende Wirkung sich auch recht bald in den Staaten des Balkans durch deren Beitritt zeigen kann. Für die neuen Mitgliedsstaaten ist es allerdings nicht nur diese Chance, sondern auch die wirtschaftliche.
Christian: Den sehe ich bisher ausschließlich positiv. Vielleicht war es nicht richtig, gleich zehn Staaten auf einmal in die EU aufzunehmen. Auf lange Sicht wird der Beitritt aber den alten als auch den neuen Ländern gut tun. Außerdem verbessern sich sicherlich die Möglichkeiten und Chancen der Studenten dieser Länder bezüglich Auslandsaufenthalte.

Und wenn schon, dann habt Ihr nichts anderes zu tun, nur diese Möglichkeiten auszuschöpfen! Eine Weile im Ausland ein „Zuhause“ zu finden und zu studieren führt ja nicht nur dazu, dass man persönlich und fachlich gewinnt, sondern auch, dass man mehr über das eigene Land erfährt, wie es im Ausland gesehen wird.