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Zeitung << 2/2004 << Interview mit Dr. Endre Hárs


Forschung in Wien, Seminare in Szeged
Interview mit Dr. Endre Hárs

Autorin: Dóra Preiszner

Ich unterhielt mich beim Kaffee mit dem Universitätsdozenten Dr. Endre Hárs, der gerade aus Wien gekommen ist, wo er gegenwärtig eine Forschungseinladung wahrnimmt.

Der größte Teil Deiner Seminare hat in diesem Semester bereits im September stattgefunden. Die Veranstaltungen wurden in doppelter Stundenzahl abgehalten, und seither triffst Du zu gemeinsam vereinbarten Terminen zu den restlichen Sitzungen ein. Wie haben sich Deine StudentInnen mit diesem ungewöhnlichen Semesterplan angefreundet?
Den Studierenden in Szeged ist das Phänomen an sich nicht unbekannt, dass Lehre und Forschung gelegentlich den Zeitplan eines Semesters durcheinanderbringen. Zu meiner großen Freude zeigen sie viel Verständnis dafür. Wenn Gastprofessoren da sind, die meistens für nur einen Monat kommen, habe ich manchmal sogar den Eindruck, dass dergleichen „Angebote“ auch den Studierenden zu einer vernünftigen Nutzung ihrer Zeit verhelfen. Man kann besser arbeiten, wenn man, wenn auch nur für einen kürzeren Zeitraum, intensiv nur eine bestimmte Aufgabe vorliegen hat. Unabhängig davon bin ich den TeilnehmerInnen meiner jetzigen Veranstaltungen sehr dankbar, dass sie sich auf den Rhythmus meines Kommens und Gehens eingestellt haben.

Du bist gegenwärtig Gast des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) Wien. Aus welchem Anlass bist Du dort?
Wie einige meiner früheren Veranstaltungen belegen, versuche ich mich seit Jahren mit neuen Profilierungen jener wissenschaftlichen Disziplinen auseinander zu setzen, zu denen auch unsere Germanistik gehört. Die Neubestimmung der Geisteswissenschaften im Rahmen einer „kulturellen Wende“ wird gegenwärtig viel diskutiert und hat möglicherweise Konsequenzen auch für das traditionelle Germanistikstudium. Auch wenn ich von der knapp bevorstehenden Amerikanisierung der europäischen Hochschulsysteme, von der breit angelegten Verschulung als Wunscherfüllung der totalitären Konsumgesellschaft sehr wenig halte, bin ich davon überzeugt, dass sich die Wissenschaften als Diskurse des Wissens über den Menschen – oder besser: über die Menschen – stets verändern, und dass es bis in das Germanistikstudium hinein sinnvoll ist, das, was als Wissen und als wissenswürdig kenntlich gemacht wird, von Zeit zu Zeit zu reformulieren. Die gegenwärtigen so genannten kulturwissenschaftlichen Annäherungen an dieses Problem stellen dabei sehr interessante und vielversprechende Versuche dar. Wie es nun auch schon im Namen des IFK Wien anklingt, ist in dieser sehr schönen Institution ein Forum für jüngere und ältere WissenschaftlerInnen geschaffen worden, um ihre eigenen Forschungsrichtungen und -ansätze in einen kulturwissenschaftlichen Argumentationsraum einzubringen. Vom Konzept her führt das IFK Vertreter verschiedener Disziplinen, wie zum Beispiel Architekten, Ethnologen, Historiker, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler, Medienwissenschaftler etc. zusammen, die sich über ihre engeren Fachgrenzen hinaus austauschen und einen gewissen Konsens zu erarbeiten versuchen. Die Kulturwissenschaften, wie die Pluralform des Wortes nahe legt, schöpfen gerade aus diesem Anspruch einer fächerübergreifenden, inter- oder transdisziplinären Verständigung.

Mit welchen Erwartungen bist Du nach Wien gegangen?
Erfahrung und mögliche Mitgestaltung der „Nomadisierung der Wissenschaftssprachen“, wie der Direktor des IFK, der Bildanthropologe Hans Belting formuliert hat, war unter anderem meine Absicht und ich habe mich in dieser Erwartung nicht getäuscht. Ich habe auch viel nachzuholen und es ist wirklich großartig zu erleben, wie andere auf ihrem Gebiet mit Fragen umgehen, die auch mich intensiv beschäftigen. Montags tragen die Gäste zu ihren Forschungsthemen vor, da habe ich zum Beispiel über Kulturkonflikte in Haydns Opern, über die Naturphilosophie der Renaissance im Spiegel der Kolonialgeschichte, über das Schiff als „Ort ohne Ort“ Vorträge gehört, in denen auf spannende Weise historische Themen kulturwissenschaftlich angegangen wurden. Mittwochs diskutiert man die Themen der jüngeren Stipendiaten. Von diesen erwähne ich vielleicht nur eines: eine Arbeit zur Geschichte der Hausnummerierung. Nie habe ich bisher darüber nachgedacht, dass Hausnummern, deren Funktion man sich vielleicht nur überlegt, wenn man sich in Plattenbauvierteln verläuft, auch ihre Geschichte haben können und dass es im 17-18. Jahrhundert sozusagen „ein erstes Mal“ gab, wo Nummern auf die Haustüren gemalt wurden. Freilich, wenn es keine Veranstaltungen gibt, arbeite ich natürlich fleißig zu meinem eigenen Thema. Ich sitze mitten in Wien in einem schönen Arbeitszimmer mit Computer, gegenüber liegt die Universitätsbibliothek, und wenn man zwischendurch in die Teeküche des IFK geht, hat man Gespräche mit freundlichen und interessanten Kollegen aus anderen Fachgebieten, denen man selbst bei Konferenzen kaum begegnet. Die Stadt hat auch einiges zu bieten, Theater und Ausstellungen in Hülle und Fülle, aber selbst bei Spaziergängen bekommt man sehr viel von der Atmosphäre der Stadt mit.

Was machst Du, wenn Du gerade nicht arbeitest?
Folgt man den Anweisungen etwa eines Konrad Lorenz (vgl. den „sonntäglichen Spaziergang“ in seiner Ethologie) oder eines Umberto Eco ("wie einem die besten Gedanken beim Pinkeln kommen“), so hört man nie auf zu „arbeiten“, aber immerhin: Ich war bisher einige Male im Theater bzw. in der Oper, die tollste Erfahrung in dieser Kategorie war für mich das französische Original von Verdis Don Carlos, das viel länger ist, als die bekannte Fassung. Fünf Stunden Musik, die schnell vergingen, und zwar ungeachtet dessen, dass ich lediglich einen Stehplatz gehabt habe. Du weißt, es gibt in den Wiener Theatern diese tollen Stehplätze für diejenigen, die sich spontan für einen Theaterabend entscheiden oder weniger Geld ausgeben wollen. Eine gute Institution! Sonst schätze ich das Bummeln in der Stadt sehr, wozu auch das ziellose Herumfahren mit dem Stadtverkehr gehört. Eine Gewohnheit, der ich als Kind in Budapest frönte und an die ich mich in Großstädten wie Wien oder Berlin immer wieder erinnert sehe. Ich bin ein Flaneur des Straßenbahnnetzes. Vielleicht noch was dazu: Wenn man in den hinteren Wagen der Wiener Straßenbahnen älteren Jahrgangs ganz vorne sitzt, hat man in den steileren Kurven freie Aussicht in Fahrtrichtung, um die zu haben, braucht man gar nicht erst in den Prater zu gehen. Den Prater werde ich mir übrigens zusammen mit meiner Tochter zu Weihnachten vornehmen.

Wie bekommt man die Gelegenheit, sein Projekt am IFK zu vertreten?
Das IFK vergibt Stipendien, um die man sich bewerben kann. Es gibt Stipendien für Doktoranden (Junior Fellowships), für den Mittelbau (Research Fellowships) und für renommierte ältere Wissenschafter (Visiting Fellowships). Das Schöne dabei ist, dass dadurch nicht nur verschiedene Disziplinen, sondern auch verschiedene Generationen (aber auch verschiedene Nationen) zusammengeführt werden. Das alles, wie auch die Programme und die Veranstaltungen sind auf der Homepage des IFK einsehbar: www.ifk.ac.at. Ich habe mich übrigens mit meinem Forschungsprojekt „Die Figur des Menschen. Anthropographie um 1800“ beworben.

Wie sieht dieses Forschungsprojekt aus?
Was mich im 18. Jahrhundert fasziniert, ist die Offenheit, wenn man will, die Undiszipliniertheit der Diskurse, die über den Menschen geführt werden. Erst im 19. Jahrhundert gehen die Disziplinen auseinander und legen etwa einen Germanisten oder einen Historiker (einen Biologen oder einen Mediziner) darauf hin fest, wofür er zuständig ist und wofür nicht mehr. Nun gehen im 18. Jahrhundert die Interessen noch ganz durcheinander und machen etwa literarische Texte nicht lediglich als Kunstwerke mit einem autonomen ästhetischen Anspruch erfahrbar, sondern auch als Einmischungen in alle anderen Bereiche lesbar. Offen ist die Epoche jedoch auch in einer anderen Hinsicht. Nach Relativierung der metaphysischen Verankerungen des Menschen (als Geschöpf Gottes) wird sehr intensiv daran gearbeitet, ihm neue Legitimationen zu verschaffen, sein Dasein aus einem anderen Grund als dem Willen Gottes abzuleiten. Da dies ein (bis in die Gegenwart) nicht minder problematisches Vorhaben ist, wird der Mensch als Gegenstand des Wissens dem freien Markt von Konzepten und einem sehr beweglichen Medium wie der Sprache überantwortet, in welcher selbst die exaktesten Wissenschaften ihren Gegenstand entwerfen. Mein Interesse richtet sich auf diese Vielfalt der Konzeptualisierungen des Menschen um 1800 (eine Epochenbezeichnung mit offenen Enden), die in Texten (sei es in literarischen, philosophischen oder naturwissenschaftlichen) und in vielen Fällen als Konfligieren einander widersprechender Ansätze erfahrbar gemacht werden kann. Die Epoche eignet sich zur Markierung dieses gleichermaßen konfliktreichen und produktiven Wissens, das seinen Gegenstand ebenso hervorbringt wie immer wieder neu erschafft, wunderbar.

2004 ist dein Buch „Én – túl a nyelven. Irodalom, antropológia, kultúra“ („Ich – jenseits der Sprache. Literatur, Antrophologie, Kultur“) erschienen. Wie würdest Du es beschreiben?
Selbstverständlich ist vieles von meinen kulturwissenschaftlichen Recherchen ins Buch eingegangen – expliziert wurde allerdings in den Analysebeispielen vieles viel mehr anhand der ungarischen als der deutschsprachigen Literatur. Das im Titel genannte Ich meint sowohl den Sprecher wissenschaftlicher Texte als auch das Selbstverständnis, oder anders ausgedrückt: die Selbstinfragestellung eines Wissenschaftlers, für den Wissen lange nicht mehr mit dem Finden endgültiger Wahrheiten zusammenfällt. Unter den Beiträgen finden sich auch essayistische Versuche, von denen ich interessierten Lesern vielleicht den allerletzten empfehlen würde, der von einem Gastautor, einem gewissen Béla Nyárs zum Wohl der Leser verfasst wurde. Das Buch ist übrigens in der Reihe deKON-Bücher erschienen, die von der sogenannten deKON-Gruppe betreut wurde, welche den Studierenden unserer Fakultät in den letzten zehn Jahren einige schöne Programme und Veranstaltungen geboten hat: Ein Projekt über dekonstruktivistische Literaturtheorie in Anwendung auf ältere und neuere Literatur, das den „deKONisten“ viel Freude und „Lust am Text“ bereitet hat.

Nach dem Wiener Projekt wirst Du dich wohl von den Strapazen der Arbeit ausruhen, oder hast Du schon weitere Pläne für die Zukunft?
Von Strapazen kann man in Wien gar nicht reden, vielmehr von idealen Forschungsbedingungen. Trotzdem ist natürlich die mir nahestehende Lebensart das ausgewogene Verhältnis von Lehre und Forschung. Keine der beiden darf auf Kosten der anderen überhandnehmen. Sie bedingen sich für mich und entsprechend versuche ich zwischen den beiden Aktivitäten zu vermitteln. Meine die Hochschulreformen betreffende Befürchtung ist gerade, dass die beiden Beschäftigungen auseinandergehen und ich zwar forschen darf, was und worüber ich will, aber in der Lehre das Minimalprogramm vertreten muss, was im BA-Studium für die vielen, und im MA-Studium für die wenigen als „relevantes“ und „nützliches“ Wissen von anderen (von Politikern und nicht von meinesgleichen) für mich festgelegt wurde. Die Veränderlichkeit, mit anderen Worten: der „proteische Charakter“ der Kultur macht aber zum Glück irgendwann jede Überhandnahme wieder gut.

Ich danke Dir fürs Gespräch!