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Zeitung << 2/2004 << Literarisches Forschungsseminar in Torun


Literarisches Forschungsseminar in Torun
Ein Tagebuch von Adrienn Németh

Autorin: Adrienn Németh

Samstag, 25.09.2004, 18:00
„Aller Anfang ist schwer“ – pflegt man zu sagen, aber wenn ich auch dabei bin, dann ist es noch schwieriger, und wenn mich noch die Gesellschaft von neun Literaten umarmt, dann ist die Grundsituation quadriert. Als ich endlich bis zum Budapester „Keleti“-Bahnhof kam, sammelte sich schon die Gruppe beim Gleis 8. Als ich auf das Lokomotivwunder im Sozrealstil blickte, bekam ich beinahe einen Weinkrampf und hoffte insgeheim darauf, dass wir doch nicht damit fahren würden. Ich glaubte, dass sie nicht einmal fünf Meter fahren kann, geschweige denn 900 km. Aber alle Gebete waren vergebens, Gott erhörte mich nicht, dazu kam noch, dass Attila Bombitz und Miklós Fenyves mit den anderen verschwanden. Zu viert blieben wir in einem Wagen allein, und die erschöpfte Studentenschaft amüsierte sich gut, bis wir uns der Tatsache bewusst wurden, dass wir in einem falschen Wagen saßen, und wir in einer halben Stunde von den Wagen nach Torun abgehängt werden würden, zugleich auch von unseren Dozenten. Attila kam auf die tolle Idee, wir sollten nun aussteigen, wenn der Zug anhält, und inzwischen in den ersten Wagen vorgehen und dort einsteigen, wo auch die anderen sind. Es war kein komplizierter Plan und ja einfach auszuführen. Wir beruhigten uns, dieser Zustand dauerte, bis Attila per Handy die Parameter von Strecke und Zeit hinzufügte. Strecke: 160 Meter. Verfügbare Zeit: eine Minute. Wenn ich nun Michael Jordan wäre, ohne Gepäck, dann könnte ich die peinliche Situation ohne Weiteres lösen, aber ich bin nicht er und ich habe auch Gepäck mit. Es kam nun der Plan „B“, wir nahmen das Gepäck und schleppten es vom letzten Wagen bis zum ersten mit. Als wir endlich ankamen, amüsierte sich die Gruppe gut. Ich weiß nicht, worüber, ich hielt das nicht für witzig. Aber der Herrgott erhörte mich mit halbem Ohre doch, die Umgebung avancierte vom Sozrealstil nämlich zur IC-Qualität.

Sonntag, 26.09.2004
4:30: Ich fühle mich so, als ob eine Elefantenherde über mich getrampelt wäre. Ich werde meine Glieder nie mehr benutzen können. Egal, ich habe zumindestens etwas geschlafen.
6:00: Ankunft in Warschau. Die Gruppe ist ein bisschen unkonzentriert, bestimmt dem wenigen Schlafen zu verdanken.
6:30: Seit einer halben Stunde diskutieren wir schon darüber, ob die richtige Reihenfolge Kaffee, Toilette; Frühstück, Toilette; vielleicht Kaffee, Frühstück; oder vielleicht doch Frühstück, Kaffee, Toilette wäre.
7:30: Vili hat sich von der Gruppe getrennt, denn er glaubt, dass er doch mit der Toilette anfangen müsste.
8:00: Wir sind in der Gefangenschaft der Gepäckaufbewahrungsstelle, wir haben nämlich keine Münzen und keiner will uns den Schein wechseln. Vili ist bereits seit einer halben Stunde verschwunden.
8:30: Vili ist immer noch nicht da. Wir ärgern uns immer noch mit der Gepäckaufbewahrung.
9:00: Vili kommt zum Vorschein, er wurde nämlich in der Toilette eingeschlossen. Wir machten uns auf den Weg. Warschau ist monumental, Wolkenkratzer im Vorort, dann drinnen tat sich das Stadtzentrum vor uns auf, als ob jemand vor uns eine Juwelendose öffnete. Wir wurden vom Anblick auch erschöpft, nun auch von der Gruppe der einmarschierenden Soldaten, die uns dann in dem Zug nach Torun mit ihrer Gesellschaft beehrten. Wir kamen um halb zehn in Torun an, ich konnte nicht schlafen, denn mein Kopf war voll von Bildern, die noch auf einen Rahmen warteten.

Montag, 27.09.2004
Was man nun verkomplizieren kann, haben wir auch übererfüllt. Das sah so aus, als ob die ganze Gruppe Kollektivmigräne hätte und kein Aspirin. Um sieben Uhr früh liefen wir zum Bahnhof, wir hatten zwei Reiseziele für heute: Die Nordsee, Zopot, und Danzig. Nach drei Stunden Fahrt liefen wir zur Mole, zwei Züge von der Meeresluft und ein paar Fotos, um doch sagen zu können, dass wir auch hier waren. Am liebsten hätte ich die ganze Mole abgebaut und das in Herzform angelegt, weil es so schön war, und ich wollte nicht gehen, am liebsten hätte ich aus vollem Halse geschrieen: Bleiben wir! Dann gingen wir doch zurück zum Bahnhof. Gabi vertrieb nun meine schrecklichen Sorgen ganz leicht. Sie verstand nicht, wie sie mit einem Film von 24 Bildern bereits das 27. Foto machen kann. Einen kurzen Blick auf ihren Apparat geworfen, bemerkte ich, dass es darin keinen Film gab. Die kleine Anzeige auf dem hinteren Teil des Apparats lächelte mich nun an. Ich teilte ihr meine Feststellungen sofort unsicher mit, dann lief ich weg. Warum soll ich mich dem Rummel aussetzen, wenn Szilard auch da ist. Es ist nicht gut, neben einem Vulkan zu stehen, wenn er ausbricht, und ich hatte auch Recht. Am Bahnhof traf sich die Gruppe wieder, nachdem alle ihren neuesten Rekord im 1000 M-Lauf eingestellt hatten. „We are the champions my Friend“, beziehungsweise „we are…“ wieder ohne Vili. Er verschwand nämlich wieder zur Abwechslung. Ich glaubte, wir sollten ihn in der Toilette suchen, vielleicht poltert er da an der Tür, damit man ihn endlich herauslässt. Wir brauchten doch nicht dorthin zu gehen, da er auf dem anderen Bahnsteig erschien. In dieser Sekunde kam unser Zug an. Obwohl wir ihm die Daumen drückten, erreichte er den Zug nicht. Es bestand kein Grund zur Sorge, denn innerhalb einer halben Stunde fuhr ein anderer Zug, mit dem Vili von Zopot nach Danzig fahren konnte, glaubten wir zumindest, aber es geschah nicht so. Wir irrten uns. Unabhängig von 1000 Meter hohen Gipfeln fahren die Züge zwischen Zopot und Danzig alle sechs Minuten. Ich glaube, Murphy könnte über uns ein Buch schreiben, aber es ist immer noch nichts im Vergleich dazu, was uns in Danzig passierte.
Drei Stunden blieben uns für Danzig. Attila diktierte das Tempo, wir konnten aber den Rhythmus nicht übernehmen. Wir sabotierten „den Plan des Fremdenführers“, denn wir hatten schon Hunger. Nach einer kurzen Hysterie aß er doch etwas mit uns, dann fuhr er wegen Vili zum Bahnhof, aber vergebens, da er damals schon längst die Straßen von Danzig durchmaß. Also warteten wir auf ihn im Restaurant. Dann begann die Gruppe sich zu verlaufen, am Ende sind wir als Studenten wieder nur zu viert übriggeblieben und so hatten wir nur noch eine Stunde, Danzig etwas näher kennen zu lernen. Dann wieder der Lauf zum Bahnhof. Dieses Motiv des Tages gefiel mir überhaupt nicht. Wir besprachen, dass wir uns Viertel vor vier am Bahnhof treffen, denn unser Zug fuhr genau um vier Uhr ab. Außer uns war aber keiner da. Wir ängstigten uns zuerst noch nicht, erst nach zehn Minuten. Dann rannten wir von Bahnsteig zu Bahnsteig wie die vergifteten Mäuse, aber wir fanden die anderen nicht. Der, der von oben die Aktion besichtigte, amüsierte sich bestimmt gut über uns, es ist ganz sicher, dass der uns für blöd hielt. Ein Zug kam um vier Uhr auf den Bahnsteig 1. Sofort rannten wir dorthin und fragten den Schaffner, wohin der fährt. Inzwischen erschienen die anderen. Wir freuten uns endlich über sie, sie hingegen über uns nicht so sehr. Attila schimpfte mit uns. Er glaubte uns nicht, dass wir rechtzeitig hier waren, obendrein warteten wir aufeinander auf nebeneinander liegenden Bahnsteigen. Ich fand das witzig. Das war die Krönung des Tages. Ich verstand nicht, warum wir nicht in den Zug einstiegen, wir hätten ihn noch eben erreichen können, aber er wollte uns bestimmt sein pädagogisches Gefühl beweisen. Seine Entschuldigung geäußert, führte er uns laufenden Schrittes in die Hafenstadt von Danzig und zeigte uns das Denkmal der Solidarität. Danach rannten wir natürlich wieder zum Zug, aber es fiel uns nicht mehr auf. Dazu verloren wir noch den Stadtplan, den wir von unseren polnischen Kameraden geliehen bekommen hatten. Der Stadtplan verschwand bei jemandem, irgendwo. Bis zum heutigen Tag wissen wir nicht, bei wem. Aber diesen Rummel nahmen wir auch auf uns, da wir ja strapazierfähige Mädels sind. Mit dem Abendbrot verspäteten wir uns mehr als eine Stunde, weil wir den Zug verpassten, aus pädagogischen Gründen. Dennoch freuten sich sowohl die polnische als auch die deutsche Gruppe über unsere Ankunft. Nach dem Abendessen, als schon alle zurück zum Hotel kamen, sangen wir Attila den erfolgreichen Schlager von Demjén „a vonat nem vár“ („der Zug wartet nicht“).

Dienstag, 28.09.2004
Heute fängt es mit dem Ende an, den ganzen Tag beschäftigten wir uns mit Rilke. Die Deutschen verabsäumten nicht, die Gedichte zu verteilen, und wir mussten nach dem ersten Lesen die Bilder im assoziativen System unseres Gehirnes aufdecken. Nach dem Seminar am Vormittag gab es eine vierstündige Pause. Allein machte ich mich auf den Weg, um die Stadt zu entdecken. Für mich war der Stoff des Seminars am Vormittag so viel, dass ich mich nach keiner Gesellschaft sehnte. Nun brach ich auf und schaute mich um. Die Gebäude sind merkwürdig, Barock, Klassizismus und Jugendstil leben nebeneinander in Torun. Die Zeit bleibt eine Minute stehen, sieht sich um und dann eilt sie fort. Nach dem Vortrag von Frau Dr. Silke Pasewalck am Abend gab es spontan eine Hausparty, beziehungsweise „eine Hotelparty“, im Zimmer 19. Konservendosenzustand. Zu dreißigst pressten wir uns in ein Zimmer, ich machte die Musik, unabhängig davon unterhielten sich alle auf einmal. Torsten, Leiter der deutschen Gruppe, versprach mir eine Stadtrundfahrt in Torun, denn in Szeged machte ich eine. Es ist schön, dass er sich noch daran erinnerte. Die Party dauert bis zur Morgenstunde, freilich nur für diejenigen, die ausharrten. Ich mache mir keine Sorgen um das Seminar von morgen, meine Laune wird zu Solaris passen. Ich fühle mich bereits so, als ob ich auf einem anderen Planeten wäre.

Mittwoch, 29.09.2004
Meine Vorahnungen erfüllten sich. Im Saal umgeschaut, scheint mir, dass sich viele – wie auch ich – auf einem anderen Planeten fühlen. Ich ziehe zugleich auch die Konklusion, man muss mit dem polnischen Wodka vorsichtig sein. Gestern stiegen wir ins Raumschiff hinein und heute sind wir schon auf Solaris angekommen.

Donnerstag, 30.09.2004
Dieser Tag ist für uns. Wir brachten das Werk von László Krasznahorkai „Háború és háború“ („Krieg und Krieg“) mit, und damit bombardieren wir das Gehirn unserer polnischen und deutschen Kameraden. Gestern habe ich herausgefunden – was sonst auch die anderen angenommen haben –, dass die Aufgaben in Briefform kommen sollen. Das Hauptthema des Seminars war die Intermedialität, deswegen hat Attila das obige Werk gewählt. Zum Buch gehört noch eine selbst vernichtende CD-ROM, die das Interesse von allen aufputschte. Wir haben es geschafft und ich denke, es hat gut geklappt. Zum Abschluss des Seminars gingen wir am Abend in ein uraltes, polnisches Restaurant, in dem wir eine der ungarischen Spezialität „székelykáposzta“ ähnliche, aus Kohl zubereitete Speise aßen, die man in Polen „Bigos“ nennt. Georg, ein deutscher Student, der in Polen geboren wurde, hat uns zu dieser Speise überredet, er sagte, dass wir etwas so Köstliches noch nie gegessen hätten. No comment. Nach dem Abendessen machten wir wieder eine Party. Attila trug auf dem Tanzparkett den Tod des Schwanes vor. Es war recht überzeugend. Er verband die Elemente des Volkstanzes mit der Bewegung von Robotern und gummierten Nickelflöhen in den achtziger Jahren mit dem modernen Ballett. Ich war stolz auf ihn, keiner konnte auf dem Tanzparkett mit ihm mithalten, vor Erschütterung konnten sich die Menschen auch nicht bewegen. Bis in die Morgenstunden hinein haben wir geschlemmt.

Freitag, 10.1.2004
Wir machten uns auf den Weg nach Hause: sich verabschieden, „bis zum nächsten Mal“, und Ähnliches. Dann kam wieder der Wahnsinn: wir glaubten, dass wir diesen Tag noch in Warschau verbringen, da unser Zug nach Ungarn erst am späten Abend abfährt. Mit Erfolg haben wir den vorigen Sonnabend und Sonntag überstanden, wir sind zum Zug gelaufen, einige haben den früheren, andere den späteren Zug genommen. Attila, Szilárd und Judit sind verschwunden. Vili ist verloren gegangen. Schließlich sind wir doch alle nach Hause gekommen.

Trilaterales Forschungsseminar Toruñ-Göttingen-Szeged
„Intermedialität an Beispielen aus polnischer, deutscher und ungarischer Literatur“

Montag, 27.09.2004
Anreisetag
20:00 Begrüßüngsampfang im Restaurant „Zajad Staropolski“

Dienstag, 28.09.2004
10:00 Seminarsitzung zum Thema „Intermediale Bezihungen: Rainer Maria Rilke über Cézanne“
12:00 Seminarsitzung zu ausgewählten Gedichten Rilkes
14:00 Mittagspause und Freizeit für Stadtbesichtigung
18:00 Vortrag von Dr. Silke Pasewalck: Die Konturauffassung bei Cézanne und Rilke

Mittwoch, 29.09.2004
10:00 Seminarsitzung zum Thema „Solaris und Probleme des Medienwechsels“
13:00 Mittagspause
15:00 Seminarsitzung zum Thema „Intermediale Bezüge in Solaris-Verfilmungen“

Donnerstag, 30.09.2004
10:00 Seminarsitzung zum Thema „Medienkombination: László Krasznahorkais Krieg und Krieg als Buch, CD-ROM und Webseite“
13:00 Mittagspause
15:00 Seminarsitzung zum Thema „Medienkombination: László Krasznahorkais Krieg und Krieg als Buch, CD-ROM und Webseite“ (Fortsetzung)

Freitag, 1.10.2004
Abreisetag