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Zeitung << 2/2004 << Hermann Hesse


Hermann Hesse
Autor der Krise

Autorin: Szilvia Márton

Im Seminar „Die Meistererzählungen von Hermann Hesse“ bei Dr. Géza Horváth las ich zum ersten Mal Hermann Hesse. Seine vielseitige Begabung in der Literatur und in der Malerei, sein reges, abenteuerliches Leben und seine riesige Produktivität bewunderte ich. Er war Dichter, Schriftsteller und auch Maler. Sein Leben war voll von Erfolgen und Fehlschlägen.

Hermann Hesse zählt zu den meistgelesenen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Seine Werke sind mit einer Auflage von mehr als 60 Millionen Exemplaren in aller Welt verbreitet. 1946 bekam der „letzte Ritter der Romantik“ den Nobelpreis für Literatur und 1955 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Man kann die Werke des Dichters eigentlich keiner literarischen Gruppe zuordnen. Alle seine Bücher stellen ein persönliches Bekenntnis seines konfliktreichen Lebens dar. Hesse gilt als „Autor der Krise“, als ein Dichter, der sich schreibend der quälenden Selbstanalyse unterzog, immer auf der Suche nach der eigenen, der wirklichen Identität.
In dem Werk „Kinderseele“ sucht er die Geheimnisse der Seele eines Kindes. Als er dieses Werk schreibt, ist er erst 22 Jahre alt. Diese kürzere Erzählung ist stark geprägt von autobiografischen Elementen. Hesse erzählt Episoden aus seiner Kindheit. Eines Tages, als Hermann Hesse gerade elf Jahre alt ist, geht er von der Schule nach Hause. Schon am Morgen fühlt er, dass der Tag Schlechtes bringen wird. Plötzlich verspürt der Junge Angst und Unsicherheit vor einer Strafe, obwohl er doch gar nichts gemacht hatte. Er ahnt Unheil voraus. Er geht ins Zimmer seines Vaters, wo er Stahlfeder und Feigen stiehlt. Er stiehlt wie unter Zwang, fast gegen seinen Willen. Wegen des begangenen Diebstahls hat er ein schlechtes Gewissen. Seine Gefühle steigern sich, das Schuldgefühl und die Angst schlagen in Rachgefühl, in verbissene Aggressivität um. Inzwischen hat er sich steigernde Visionen und denkt an Vatermord. Er mischt sich in eine Prügelei mit seinem neuen Freund Oskar Weber ein und lässt seine Wut heraus. Am selben Tag erwartet er die Strafe. Sie wäre ihm Erlösung, aber sie bleibt aus. Am nächsten Tag vergisst das Kind seine Sündtat zwar nicht, doch es kommt ihm alles nicht mehr so real vor, alles ist in die Ferne gerückt. Nach der Messe steht der Vater plötzlich im Zimmer. Der Sohn bekommt Angst, der Vater redet ihn auf die Feigen an. Der Junge beginnt zu lügen, aber zum Schluss wird er bestraft. Es ist zu spät, das Kind kann dem Vater nie verzeihen.
Das zentrale Thema der Erzählung ist das Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Der Vater ist streng, kein Vorbild für das Kind. Die Strafe kommt auch immer von ihm. Er vertritt Gesetz und Strafe. Der Junge sieht seine Stellung in der Familie als schicksalhaft an. Alle anderen sind sittsam und rein, gut und gottesfürchtig. Er fühlt sich ausgeschlossen, schlechter, sündiger als die anderen. Die eigentliche Handlung spielt sich in der Seele des Kindes ab. Dieses Ereignis aus seiner Kindheit war für Hesse sehr bestimmend und wichtig, deshalb schrieb er nach elf Jahren darüber. Es gibt zu denken, welch große Störungen und Verletzungen die unkonsequente und unrichtige Erziehung der Eltern in der Kinderseele verursachen kann. Sie sehen die Welt ganz anders als wir. Ich denke, Strafe kann keine Probleme lösen, sie zerstört nur die Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Hesses Roman „Der Steppenwolf“ entstand auch in einer schweren seelischen Krise des damals knapp 50-jährigen Autors. In vielen Briefen aus dieser Zeit klagt Hesse über Depressionen und er hat oft Selbstmordgedanken. Die Vorarbeiten zum Steppenwolf reichen bis ins Jahr 1922 zurück („Aus dem Tagebuch eines Entgleisten“).
Die Hauptfigur des Romans ist Harry Haller. Er ist ein empfindsamer und leidenschaftlicher Mann, der sich als Steppenwolf betrachtet: Er glaubt zwei gegenseitige Naturen in seiner Seele zu spüren. Die eine Natur ist die eines Menschen, sogar eines Bürgers, ordentlich und sentimental. Anderseits zeigt er aber zuweilen die Natur eines wilden Tieres, das einsam und gewaltig ist. Haller kann sich in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich zurechtfinden. Er sehnt sich immer nach der Ordentlichkeit eines sauberen Hauses, aber er bringt sich in höchste Verwirrung durch Alkohol und Selbstmordgedanken. Wie Harry Haller setzte auch Hermann Hesse seinen 50. Geburtstag als den Tag fest, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. Hesse schreibt vom Steppenwolf: „es ist die Geschichte eines Menschen, welcher komischerweise darunter leidet, daß er zur Hälfte ein Mensch, zur andern Hälfte ein Wolf ist. Die eine Hälfte will fressen, saufen, morden und dergleichen einfache Dinge, die andere will denken, Mozart hören und so weiter, dadurch entstehen Störungen, und es geht dem Mann nicht gut, bis er entdeckt, daß es zwei Auswege aus seiner Lage gibt, entweder sich aufzuhängen oder aber sich zum Humor zu bekehren.“ (aus einem Brief an Georg Reinhardt).

Hermann Hesse – ein Leben voller Krisen

Hermann Hesse kommt am 2. Juli 1877 in Calw in Württemberg zur Welt. Sein Vater, ein Baltendeutscher aus Estland, ist als Prediger und Sprachlehrer in Indien tätig, seine Mutter ist die Tochter eines Missionars, und ein Vetter arbeitet als Missionar in Japan. Er kommt also aus einer sehr religiösen Familie, und so beginnt er auch Theologie zu studieren. Da er sich aber im Seminar im schwäbischen Maulbronn eingesperrt fühlt, bricht er eines Tages aus. Als die Eltern ihn in einer anderen Schule unterbringen, versucht er, sich das Leben zu nehmen. Danach kommt er in eine Heilanstalt, wo er sich nur langsam erholt. Er wird Buchhändlerlehrling in Tübingen und später Gehilfe in Basel. Mit dem Roman „Peter Camenzind“ kommt der 27-Jährige zu seinem ersten großen Erfolg. Sein Verleger Samuel Fischer macht ihn mit Thomas Mann, Ludwig Thoma und Stefan Zweig bekannt, die er später zu seinen Freunden zählen kann. Von Basel aus unternimmt er zwei Reisen nach Italien. Er heiratet und zieht nach Gaienhofen am Bodensee. In der ländlichen Abgeschiedenheit werden auch seine drei Söhne geboren. 1912 verlässt Hesse Deutschland für immer und übersiedelt mit seiner Familie nach Bern, in ein ländliches Haus. Trotz der schönen Landschaft nehmen seine Probleme zu. Seine Ehefrau wird gemütskrank, und er kann seine Funktion als Familienvater, Schriftsteller und Zeitkritiker immer schwerer koordinieren. In diesem Zustand erlebt er auch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Nach dem Tod des Vaters steht der Dichter am Rande des nervlichen Zusammenbruchs. Er wird durch den Psychotherapeuten und C.G. Jung-Schüler J.B. Lang behandelt. Im Mai 1919 verlässt Hesse Bern und zieht ohne die Familie in den Süden, nach Montagnola (Tessin). Das Leben des 42-Jährigen verändert sich unter der Sonne des Südens schlagartig. Die erste Ehe wird geschieden, und Hesse heiratet wieder. Während der Bewältigung von seinen persönlichen Krisen beginnt seine reichste Schaffensperiode. Es entstehen seine wichtigsten Werke: „Klingsors letzter Sommer“, „Das Siddhartha“, „Der Steppenwolf“ und „Narziß und Goldmund“. Er beginnt im Tessin auch intensiv zu malen. Eine dritte Ehe schließt Hesse mit Ninon Dolbin. Es erscheint sein programmatisches Werk „Das Glasperlenspiel“. Am 9. August 1962 stirbt er als Schweizer Bürger im Tessin.