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Zeitung << 2/2004 << Ein Gespräch mit Gastprofessor Gerhard Stickel


„Ich habe mich in Szeged wohl gefühlt und ich würde zurückkommen, wenn sich die Gelegenheit ergibt“
Ein Gespräch mit Gastprofessor Gerhard Stickel

Autoren: Orsolya Birta, András Mucsi

Das Institut für Germanistik der Universität Szeged hatte die Ehre, im Wintersemester 2004/ 2005 den prominenten Germanisten, Professor Gerhard Stickel als Gastprofessor begrüßen zu dürfen. Der ehemalige Direktor des Instituts für Deutsche Sprache (IDS), Honorarprofessor der Universität Mannheim verbrachte einen Monat in Szeged, wo er eine Blockvorlesung, zwei Seminare und einen interessanten Vortrag hielt. Zur Zeit ist der Wissenschaftler der Vorsitzende der Europäischen Föderation Nationaler Sprachforschungsinstitutionen. Wir freuen uns, dass er unsere Zeitung mit einem Interview und unsere Universität mit seiner Gegenwart beehrt hat.

Sie waren von 1976 bis 2002 Direktor des Instituts für Deutsche Sprache. Wie denken Sie an diese lange Periode zurück?
Aus heutiger Sicht denke ich sehr gerne daran zurück, aber zu der Zeit, in der ich Direktor des IDS war, gab es natürlich schwierige Situationen, manchmal auch unangenehme Phasen, wo man einmal ums Geld, das andere Mal mit Kollegen kämpfen musste, die andere Meinungen hatten. Aber heute sehe ich es so, dass es die wichtigste Periode meines Lebens war.

Seit dem 1. Oktober 2002 sind Sie im Ruhestand. Halten Sie noch Vorlesungen an Ihrer Uni? Woran arbeiten Sie zur Zeit?
Offiziell bin ich tatsächlich im Ruhestand, aber ich bin immer noch tätig. Ich habe mit einigen europäischen Kollegen eine Organisation, die Europäische Föderation Nationaler Sprachforschungsinstitutionen im Jahre 2003 in Stockholm gegründet. Ich bin zur Zeit Präsident dieser Organisation, außerdem halte ich Lehrveranstaltungen an der Universität in Mannheim. Ich bin also beschäftigt genug. Was die oben genannte Organisation betrifft, hat jedes Mitgliedsland der alten EU darin mindestens eine Mitgliedsinstitution, aber auch einige neue EU-Länder sind mit jeweils einer Institution vertreten. Ungarn hat noch keine Mitgliedsinstitution. Es gibt jedoch gute Aussichten, dass unsere Organisation bald auch ein ungarisches Mitglied haben wird.

Sie haben sich in zahlreichen Ländern aufgehalten. Sie waren zum Beispiel als Student in den USA, als DAAD-Lektor in Japan. Wo haben Sie sich am wohlsten gefühlt?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Ich möchte nicht ein einziges Land herausstellen, denn es würde bedeuten, dass ich die anderen Länder weniger schätzte. Mir hat eher die Abwechslung gefallen. Kurz gesagt, habe ich mich überall wohl gefühlt.

Wie beurteilen Sie die Sprachkenntnisse der Szegediner Germanistikstudenten verglichen mit denen der Germanistikstudenten anderer Länder?
Die Arbeit mit den Studenten von Szeged hat mir besonders Spaß gemacht. Ich habe den Eindruck bekommen, dass die Studenten hier noch etwas motivierter sind als die Studenten anderer Länder. Ihre Sprachkenntnisse sind bemerkenswert gut. Außer der starken Motivation, die ich hier vorfinde, sind vielleicht auch die äußeren Bedingungen günstig, denn die deutschsprachigen Länder liegen relativ nahe bei Ungarn. Man hat hier Zugang zu deutschsprachigen Fernseh- und Radiosendungen. In Ungarn Deutsch zu lernen ist leichter als in den Ländern, die ferner liegen, weil der unmittelbare Sprachkontakt intensiver ist. Sowohl die grammatischen Kenntnisse als auch der Wortschatz der ungarischen Germanistikstudenten und ihre Bereitschaft zu sprechen sind größer als anderswo. Die Studierenden scheinen keine Hemmungen zu haben. Das liegt vielleicht am ungarischen Temperament.

Sie sind seit einem Monat in Szeged. Wie fühlen Sie sich hier? Waren Sie schon einmal in Szeged oder ist es das erste Mal?
Ich war schon einmal vor acht Jahren in Szeged, aber das war nur ein kurzer Aufenthalt von knapp zwei Wochen. Zu jener Zeit habe ich an der damaligen Pädagogischen Hochschule bei der Umschulung von Russischlehrerinnen zu Deutschlehrerinnen mitgewirkt. Ich muss hinzufügen, dass Szeged sich seitdem auch äußerlich sehr stark verändert hat. Hier fühle ich mich sehr wohl und ich hätte nichts dagegen, noch ein bisschen länger zu bleiben, und ich würde gerne zurückkommen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt.

Sie haben ziemlich viele ehrenvolle Positionen innegehabt und Auszeichnungen erhalten, wie das Bundesverdienstkreuz. Was war die größte Ehre, die Ihnen zugekommen ist?
Zuerst möchte ich betonen, dass ich ein Demokrat bin und ich meine, solche Auszeichnungen haben etwas Feudalistisches an sich. Aber um die Frage zu beantworten: eine besonders erfreuliche Ehrung habe ich vor kurzem erhalten. Der französische Kultusminister hat mich Anfang November 2004 mit einem Orden ausgezeichnet. Im Rahmen einer schönen Zeremonie wurde ich im Palais Royal zu einem „Chevalier des arts et lettres“, also zu einem Ritter der Künste und der Literatur ernannt. Anschließend haben die Kollegen natürlich gleich Witze gemacht: wie: ‘Wo ist dein Pferd und dein Schwert’. Es war schon ein bisschen komisch.

Eine Ihrer Publikationen hat den Titel „Schwierigkeiten der deutschen Sprache“, in der Sie schreiben, dass die deutsche Sprache als verhältnismäßig schwierig gilt. Als ein Weltreisender haben Sie wohl genug Erfahrungen hinsichtlich der Schwächen der nichtmuttersprachlichen Deutschsprecher. Was sind die Fehler, die bei ihnen bemerkenswert oft vorkommen und für einen muttersprachlichen Linguisten besonders auffällig sind?
Keine Sprache ist leicht oder schwierig an sich. Eine Sprache hat jeweils spezifische Schwierigkeiten für Sprecher bestimmter anderer Sprachen. Je nach ihrer Ausgangssprache haben die Lerner mit der Zielsprache ihre Schwierigkeiten. Im Deutschen gibt es nicht so viele prinzipielle Schwierigkeiten. Die Ungarn etwa haben mit dem Deutschen keine großen segmentalphonetischen Schwierigkeiten, aber oft intonatorische Probleme. Ihre Intonation des Deutschen bleibt von der Muttersprache geprägt. Schwierigkeiten können den Lernern verschiedener Ausgangssprachen die deutschen Artikel bereiten und zwar in der Kombination mit Kasus und Genus. Außerdem hat das Deutsche eine besondere Nebensatzwortstellung, für die es in den meisten anderen Sprachen keine Entsprechung in der Wortstellung gibt.

„Der Dialekt hat ein neues Prestige gewonnen“, haben Sie einmal gesagt. Wenn wir es berücksichtigen, dass sogar viele Intellektuelle ein leicht dialektgeprägtes Hochdeutsch sprechen, haben die Dialekte Ihrer Meinung nach eine Zukunft?
Man muss einen regionalen Unterschied machen. In Süddeutschland gilt der Dialekt als schick. Das in Norddeutschland gesprochene Plattdeutsch ist fast verschwunden, es wurde schon nach der Reformation zurückgedrängt, unter anderem weil die evangelischen Pfarrer in der Kirche Hochdeutsch sprachen. Plattdeutsch ist heute als Minderheitensprache durch eine Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen geschützt. Ich persönlich verstehe das Plattdeutsche, weil meine Großmutter mit mir plattdeutsch gesprochen hat, aber meine Mutter nicht mehr. So ist Plattdeutsch meine „Großmuttersprache“, ich kann es nur verstehen, aber nicht gut sprechen. Im Übrigen war und ist der Aussprachestandard in Deutschland nicht so strikt wie z.B. in Großbritannien (Queen’s English), oder in Frankreich (a la Parisienne). Die Deutschen sind den Mundarten gegenüber aufgeschlossen. Sogar die deutschen Bundespräsidenten sprechen meist ein bisschen dialektgeprägt, so dass man sofort erkennt, woher der Betreffende kommt. Ich befürchte aber, dass die kleinen regionalen Mundarten, an denen sich die Menschen von einem Dorf zum anderen unterscheiden lassen, immer weiter zurückgehen werden. Mundarten beschränken sich auf die Heimatliteratur, auf Gedichte zu Hochzeiten oder Geburtstagen und Ähnliches.

Sind die Anglizismen eine Gefahr für die deutsche Sprache? Inwieweit sind sie im Deutschen integriert?
Um es mit einem schiefen Vergleich zu sagen, verhalten sich die Deutschen kollektiv zu Anglizismen wie der Trinker zum Alkohol: Er weiß, dass Schnaps gefährlich ist, trotzdem kann er darauf nicht verzichten. Natürlich betrachte ich die Anglizismen nicht als Gift. Viele Menschen befürchten, dass die Feinheiten des Deutschen durch die Einbeziehung des Englischen in die Alltagssprache schwinden. Andere dagegen übernehmen möglichst viele Anglizismen in ihren Sprachgebrauch. Ich gehöre zu keiner dieser Gruppen. Man muss ja auch wissen, dass viele von diesen „verbalen Schmetterlingen“ schon diesen Winter nicht mehr überleben. Wenn man den heutigen Wortschatz unter die Lupe nimmt, stellt man fest, dass es im Deutschen im Vergleich zu den Romanismen gar nicht so viele Anglizismen gibt. Das Problem, das ich für gefährlicher halte, ist der sogenannte Domänenverlust. (Domänen sind die Sach- und Fachbereiche, in denen die Sprache verwendet wird: z.B. Familie, Schule, Wissenschaften – Red.) In der Domäne der Naturwissenschaften ist das Deutsche stark benachteiligt. Viele Wissenschaftler publizieren leider nur noch auf Englisch. In dieser Domäne wird also das Deutsche zunehmend durch Englisch ersetzt. Langfristig kann das wirklich gefährlich sein, denn es kann passieren, dass sich in einigen Jahrzehnten deutsche Wissenschaftler auf Deutsch nicht mehr ausdrücken können. Jede Sprache verändert sich mit dem Fortschritt und wenn diese Entwicklungen in bestimmten Domänen behindert werden, ist die Sprache eines Tages nicht mehr für die fachliche Kommunikation geeignet. Für relativ harmlos halte ich es, wenn Jugendliche Anglizismen in ihre Sprache einbauen. Die Jugendsprache ist immer eine Protest- und Distanzsprache. Junge Leute wollen sich von der älteren Generation durch eine „eigene“ Sprache unterscheiden. Eine interessante Erscheinung ist, dass wenn die ältere Generation auch die von Jugendlichen benutzten Ausdrücke verwendet, diese Ausdrücke für die Jugend unbrauchbar werden. Mein genereller Appell an deutsche wie an ungarische Jugendliche und Studenten ist: Wir sollten miteinander dafür sorgen, dass die sprachliche Vielfalt in Europa erhalten bleibt, denn der Reichtum Europas ist seine kulturelle Vielfalt, und die beruht auf der Vielfalt der Sprachen.

Soweit wir wissen, hatten Sie schon die Möglichkeit, unser Germanistisches Magazin in die Hand zu nehmen. Was sagen Sie dazu?
Ehrlich gesagt habe ich es bisher nicht gründlich gelesen, nur durchgeblättert. Ich finde es aber besonders bemerkenswert, dass ein einzelnes Institut es schafft, eine solche „Hauszeitschrift“ herauszubringen. Normalerweise gibt es so eine Zeitschrift nur für die ganze Universität oder für eine Fakultät, aber dass ein germanistisches Institut so eine ernst zunehmende Zeitschrift hat, ist für mich eine neue Erfahrung und dazu gratuliere ich Ihnen.

Vielen Dank für das Interview. Es ist schön, dass Sie Zeit für uns hatten!