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Zeitung << 2/2003 << Chancengleichheit des Babylons in Brüssel


Chancengleichheit des Babylons in Brüssel
Die Sprachpolitik der EU und die Erweiterung

Autorin: Katinka Gutai

Die EU steht kurz vor der Erweiterung mit zehn neuen Mitgliedstaaten. Diese neuen Länder bringen nicht nur wirtschaftliche Potenziale, wie neue Märkte oder Warenangebote, in die größte supranationale Organisation der Welt mit, sie werden auch diesen Horizont der multikulturellen Vielfalt mit der eigenen Kultur und, als grundlegenden Bestandteil, mit ihrer Sprache erweitern. Diese interessante und vielseitige Mischung von Kulturen, Sprachen sollte schon seit langer Zeit als Ganzes eine "europäische Identität" ergeben.

Gleichberechtigung aller Nationalsprachen in der EU
Als die Europäische Gemeinschaft 1958 gegründet wurde, war in den Römischen Verträgen kaum von dem Problem der Sprachenvielfalt die Rede. Ursprünglich ging es ja nur um vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch), die leicht gemeistert werden konnten. Später konnte man den neuen Kandidaten (Dänemark, Finnland, Österreich, Portugal, Griechenland, Schweden, Spanien, Frankreich) diese Rechte auch nicht vorenthalten. Nur Irland war bereit zugunsten von Englisch auf Irisch zu verzichten. Dieser offiziellen Politik der EU liegt eine Gleichberechtigung aller Nationalsprachen zugrunde. Dieses Recht geht aus einem der wichtigsten Prinzipien der EU, dem Prinzip der Chancengleichheit hervor. Das ist die offizielle Erklärung dafür, warum die Sprachpolitik zu den meist gehüteten Gebieten der Union gehört. Nur der Ministerrat darf einstimmig eine Änderung vornehmen. Andererseits sind die Mitgliedstaaten kleine Egoisten, die sehr ungern auf ihre eigene Autonomie verzichten. Ein anderes Grundprinzip der EU, das Subsidiaritätsprinzip strebt ja nach einer bürgernahen, vereinfachten Form der Verwaltung. Im Sinne dieses Prinzips wäre es äußerst ratsam, das überkomplizierte System von Dolmetschen und Übersetzungen zu vereinfachen. Außer der EU gibt es keine anderen internationalen Organisationen, die aufgrund dieses Prinzips arbeiten würden.

Arbeitssprachen in anderen internationalen Organisationen
Die Mitgliedsländer der UNO kommen mit fünf Arbeitssprachen aus (Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Russisch), im Alltag dieser Organisation beschränken sie sich aber eher auf Englisch und Französisch. Deutsch konnte hier wegen des zweiten Weltkriegs nicht vertreten werden. Seit den 70er Jahren erlangte es aber den Rang einer Vertragssprache; die wichtigsten Dokumente der Organisation werden auch ins Deutsche übersetzt, allerdings aber auf Kosten von Deutschland. Die NATO, die OECD (die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die EFTA (Europäische Freihandelszone) und der Europarat arbeiten mit einer oder zwei Arbeitssprachen. Die zwei typischen europäischen Organisationen, OECD und Europarat verwenden Englisch und Französisch, der Europarat lässt in Ausnahmefällen auch andere Sprachen zu.

Das Problem des Dolmetschens und der Übersetzung
Viele Kritiker der Sprachpolitik der EU beziehen sich darauf, dass die Chancengleichheit der Sprachen nur dem Schein entspricht, es werden ja allein die Nationalsprachen berücksichtigt. Der andere Kritikpunkt ist, dass das System immer kostspieliger und komplizierter wird. Viele befürchten, dass während der mehrstufigen Übersetzungs- und Dolmetschprozesse relevante Informationen verloren gehen können. 1995 beschäftigten die Übersetzungs- und Dolmetscherdienste 1800 Personen, also 12 Prozent des Personals der Kommission und dreißig Prozent des akademischen Personals. Man vermutet, dass das jährlich ca. dreißig Prozent des Verwaltungsbudgets der Gemeinschaft ausmachte. Bei den meisten Kommissionssitzungen, im Rat und im EP werden die Äußerungen der Sprechenden direkt oder im Simultanverfahren übersetzt. Bei 2 Sprachen braucht man nur 2 Dolmetscher, aber bei 4 Sprachen schon 12 Dolmetscher, das würde bei 12 Sprachen schon 132 Sprachpaare ergeben. Das Problem bei 25 Sprachen nach der Erweiterung ist kaum voraussehbar. Der Dolmetscherdienst versucht das Problem mit den sogenannten Relaisübersetzungen zu lösen, es wird also nicht direkt in die Muttersprache übersetzt, es gibt zuerst eine andere Sprache, die eine Brücke bildet. Das Problem ist, dass dieses Verfahren den ganzen Prozess noch mehr verlangsamt und die möglichen Reaktionen der Teilnehmer schwieriger macht. Marcell Donat, ein Kommissar sagte über diesen Widerspruch, dass der Teilnehmer immer gezwungen ist, zwischen "wirken" und "bewirken" zu wählen. Er meinte darunter, dass er sich in der eigenen Muttersprache einwandfreier, effektiver ausdrücken könnte, also besser "wirken", aber wenn er „bewirken“ möchte, muss er sich in der Sprache der Redner äußern.

Das Prinzip der Vielsprachigkeit und die Realität
Das Prinzip der Vielsprachigkeit wird am weitestgehenden im Parlament und Rat beachtet. Sogar die Bürger der EU können sich an das Parlament in ihrer Muttersprache wenden. Eine Einschränkung der Sprachenvielfalt wurde im Parlament abgelehnt. Hier muss man betonen, dass es keine verpflichtenden Voraussetzungen bezüglich der fremdsprachlichen Kompetenzen der EP-Abgeordneten gibt. Viele von ihnen könnten aber ohne Dolmetscher keine Diskussionen führen. Aber auch in den fachbezogenen Kommissionen ist es schon vorgekommen, dass den Mitgliedern erst nach der Unterschrift und Übersetzung des Dokuments klar geworden ist, dass sie etwas missverstanden haben. Neben dem Problem des Dolmetschens und der Übersetzung sollte man auch unbedingt auf die Problematik der Terminologie hinweisen. Die Sprachdatenbank Eurodicautom der Kommission verfügt bereits über mehr als 500000 Einträge auf Englisch und Französisch, die zwei führenden Rechtssprachen der EU. Diese Terminologie muss dann auch in jede Nationalsprache übersetzt werden, was oft das Problem hervorruft, dass es in dem aktuellen Nationalrechtsystem dafür keine Entsprechungen gibt, also werden die Originalversionen teilweise behalten. Die Terminologie gehört in den Kompetenzbereich der Sprachjuristen.
Die sprachliche Vielfalt und Gleichberechtigung der Sprachen der EU funktioniert im Alltag der Organe lange nicht mehr. Aus Studien geht hervor, dass sich die meisten Eurokraten grundsätzlich des Englischen oder des Französischen bedienen. Ohne diese zwei Sprachen kommt man in der Hauptstadt der Bürokratie, Brüssel gar nicht mehr klar. Nicht nur das leitende Personal, sondern auch die Angestellten auf der unteren Ebene, und die Bevölkerung der Stadt sprechen eher Französisch. Deutschland, das der größte Nettozahler der EU ist und dessen Sprache von den meisten Muttersprachlern in der EU gesprochen wird, kämpft ohne Erfolg für die Verbreitung des Deutschen als Arbeitssprache. Die Erweiterung bietet für das Deutsche als die traditionell zentrale Regionalsprache in Ost-Mitteleuropa noch eine letzte Möglichkeit sich besser durchzukämpfen, aber auch der Beitritt von Österreich konnte nicht diesem Zweck dienen.
Die Realität bleibt also, dass sich die Organe der EU weiterhin in einer frankophonen Umgebung befinden, und man kann weiterhin mit der immer stärkenden Position des Englischen auf der internationalen Bühne rechnen. Es ist höchstwahrscheinlich, dass man die Einführung einer oder mehrerer EU-Plansprachen nicht verhindern kann. In dieser Hinsicht scheinen die Aussichten für Französisch und Englisch am besten zu sein. Wenn diese Situation sowieso unvermeidbar ist, sollte man das schöne, aber unrealistische Prinzip der Gleichrangigkeit aufgeben und sich in den meisten Situationen auf höchstens vier Plansprachen konzentrieren. Unter diesen Plansprachen sollte auch die deutsche Sprache eine hervorgehobene Rolle spielen. Ohne eine Förderung des Fremdsprachenerwerbs in den Ländern von Europa kann dieses Konzept nicht verwirklicht werden, und die Zielsetzung "Europa der Bürger" kann sich allmählich zum Europa der Eurokraten entwickeln.