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Zeitung << 2/2003 << Seltsame Materie


Seltsame Materie
Ein skurilles ungarisch-deutsches elektronisches Lesekonzert nach dem Buch von Terézia Mora
Grand Café, Szeged, 11.11.2003

Autor: Balázs Szénási

Schon seit sieben Jahren sind Ralf Werner und Martin M. Hahnemann, die Kulturtechniker aus Köln auf ihrer Mission, mit Hilfe des Goethe Instituts, der Bosch- und der Böll-Stiftung wertvolle Literatur mit moderner Musikbegleitung auf die Bühne zu stellen. Außer den deutschen Sprachgebieten haben sie zahlreiche Auftritte in den Vereinigten Staaten, in den Benelux-Staaten, auf Island, in der Slowakei und Ungarn hinter sich. Ihre elektronischen Lesekonzerte sind im Spannungsfeld zwischen Live-Hörspiel und Musiktheater angesiedelt, sowohl die rezitierende Stimme wie auch das Violoncello werden elektronisch verstärkt und durch Live-Elektronik klanglich modifiziert. Im November 2002 arbeiteten sie mit Germanistikstudenten unserer Uni zusammen (vgl. GeMa 2/2002). Die damaligen Proben und vor allem die Abschiedsparty nach der erfolgreichen Aufführung werden von den Teilnehmern bis heute besungen.

Bei der aktuellen Tournee bringen sie mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung eine zweisprachige Darstellung aus Musik, elektronisch manipuliertem Text und projizierten Bildern. Die literarische Basis bildet das 1999 erschienene Buch Seltsame Materie der in Berlin lebenden ungarischen Schriftstellerin Terézia Mora. Das Buch wurde im Erscheinungsjahr für seine traurig-witzige, realistisch-surrealistische Darstellung des ungarischen Landes der Wende mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Die stimmungsvollen und provokativen Bilder wurden von Ábrahám István entworfen.
Diesmal braucht die Aufführung bestimmt nicht so ausgereifte schauspielerische Mitteln, dass dazu wieder unsere Kollegen gebraucht werden müssten, dafür entdeckt man einige neue Gesichter. Dorottya Hoppal und Gergely Kóta verstärken den multikulturalistischen Charakter. Die Rolle von Katalin Kis-Rabota ist sehr wichtig, sie übersetzt praktisch zwischen den Sprachen. Durch ihre starke Präsenz wird auch das Publikum mit einbezogen. Hier wird keiner einschlafen! Das ist auch nötig, denn diesmal haben die Kulturtechniker gründliche Arbeit geleistet, es wird ein schwer verdauliches Stück vorgeführt. Die bearbeiteten deutsch-ungarischen Textfragmente sind kaum in Verbindung mit dem Originaltext oder gar miteinander. Einzelne Mantras werden hier wiederholt, bis der ursprüngliche Sinn im Chaos der Klänge und Stimmen, Stöhnen und Tönen untergeht. Diese Konzeption untermauert auch die Musik: an den Percussions liefert Raul Sengupta eine tolle Leistung, er zaubert wörtlich mit seinen Instrumenten. Ralf ist der Meister des repetitiven Jazz, er verkörpert in seiner Person die Verbindung zwischen Kammermusik und der elektronischen Tanzmusik. Die Band drückt mit ihren wirksamen Mitteln sehr gut aus, wie der Leitfaden in unserem Leben auf allen Ebenen verloren geht. Alles kommt unter die Räder, im Alltag egal, ob Tag oder Nacht, wach oder betäubt. Eine surrealistisch-soziorealistische Vision mit einigen nostalgischen Erinnerungen und einer originellen Regie. Martin bietet das Stück Gelegenheit für einen Galaauftritt, den er richtig wahrnimmt, seine Gesten zeugen von einer ausgereiften Weltauffassung, er strahlt in seiner narrativen Rolle. Bestimmt ist es nicht einfach, alles aufzunehmen, was die Techniker uns zumuten, aber es lohnt sich, zu probieren. Die Katharsis ist garantiert.

Internet: www.kulturtechniker.net