Startseite | Impressum | Zeitung | Beiheft | Archiv nach Autoren | Archiv nach Rubriken








Zeitung << 1/2001 << Grenzüberschreitung bei Hans Carl Artmann


Grenzüberschreitung bei Hans Carl Artmann
Autorin: Gabriella Fodor

Der österreichische Dichter H.C. Artmann hatte eine besondere poetische Welt. In seinen Werken schuf er eine einzigartige Atmosphäre. Er überschreitet die Grenzen der Kunst in der Sprache, in ihrer Räumlichkeit und Zeitbezogenheit.

Ich gebe nur Inhaltsverzeichnisse und dann kann man sich das Ganze befleischen. Ich stelle ein Skelett hin, und jeder kann nach seinem Belieben mit Fleisch und Herz und Nieren und Leber auf seine Art...² (H. C. Artmann im Gespräch mit Michel Krüger)
Die Grenzüberschreitung zeigt sich bei Artmann auch darin, was er über die Zugehörigkeit an eine Gruppe oder eine Nation sagt.
Ich widerspreche dem Vorhandensein einer Wiener Gruppe... Es hat nie eine Wiener Gruppe gegeben. Das ist eine journalistische Erfindung. Wir haben uns nie als Gruppe gefühlt.² (ed.) Er weigert, sich einer Nation zuordnen zu lassen: ²Ich bin kein österreichischer Schriftsteller, ich bin ein deutscher Dichter! (Acht-Punkte Proclamation)
Das Österreich seiner Sehnsucht ist das der Zeit vor 1918. Seine ²Allergie² gegen den Schriftsteller hängt zusammen mit seiner Verachtung derer, denen Sprache nicht etwas für sich, sondern für etwas anderes ist. Diese Allergie hängt zusammen mit seiner Sehnsucht nicht nur nach Poesie, sondern nach einer poetischen Welt, hängt zusammen mit seiner Abneigung gegen nicht-fiktive Stellungsnahmen zur Welt. Das Wort Schriftsteller bedeutet für ihn die bürokratische Auslöschung der Individualität. Der Name des Dichters aber enthält andere Verpflichtungen; Armann hört aus ihm einen Auftrag heraus, er deutet auf etwas, was man primär und nicht abgeleitet nennen kann, was mit der Irrationalität verbunden ist. Der Dichter ist keinem zivilisatorischen Intellekt verpflichtet, sondern dem Absoluten, dem Ästhetischen. Er will alle Dichter noch einmal in sich vereinigen, er möchte Sammelreinkarnation sein. Seine Werken vorführen, was verloren ist, welchen Preis wir gezahlt haben für die Rationalisierung der Welt. Aber seine Poesie zeigt auch die Hoffnung.

Bildhafte Sprache bei Artmann
Artmann sucht in seiner Poesie die Möglichkeit der Freiheit. Seine Dichtung ist ein Versuch, der Selbstverständlichkeit der Zuordnung von Wörtern zu entgehen, das Vokabular, die Elemente der Sprachmaterie so überraschend zu mischen.
Artmann reagiert auf eine versteinerte Sprache damit, dass er seine völlig neue, originelle, ungewöhnliche Bilder schafft. In diesen sucht er nach der Freiheit des Ausdrucks. Die freien Assoziationen, die Strömungen der Gedanken und Gefühlen beheben die Grenzen des Schreibens und ermöglichen für den Leser eine große Wahl von Eindrücken, Emotionen, Interpretationen zu den Werken.
Seine Dichtung ist gegen die Selbstverständlichkeit, gegen die Lesegewohnheiten gerichtet. Seine eigentliche Sprache ist die metaphorische Sprache. Oft vorkommende Metaphern sind z. B. die Vogelmetapher, das Motiv des Flugwesens, der Luftschifffahrt, die Aufbruchsmetapher, die Kreismetapher, diese alle sind mit der ständigen Bewegung, mit dem Neubeginn, mit der Freiheit verbunden. Zu diesem Begriffkreis gehört noch die Jahreszeitenmetapher, wo das Ende des Winters nach der traditioneller Auffassung Zeichen der Hoffnung, bei Artmann auch die Aktivierung für die Zukunft bedeutet. Eine Metapher für seine ganze Dichtkunst ist die Grammatik der Rosen, die zugleich der Titel seiner Prosasammlung ist. Die Grammatik der Rosen ist die Metapher der Poesie. Die Freiheit der Gedanken führt zur Freiheit der Sprache. ²Rose² bedeutet in der Symbolik die Vergänglichkeit. Für sein ganzes Werk stehen die Deformationen der Gewohnheiten als Bedingung der Neuerung.
Bilder erscheinen auch konkret in seinen Werken. Sie gehören eng mit den Texten zusammen, wie z. B. in den Werken holzrausch, in dem Holzschnitte von Christian Tannhäuser neben den Gedichten stehen, Wiener Vorstadtballade, in dem den Text Fotos über die Wiener Vorstadt illustrieren und Grünverschlossene Botschaft, wo die Bilder die beschriebenen Träumen darstellen.

Reizkunst: Einfälle, Montagen
H. C. Artmann, ein Meister luftigster Einfälle, ist ein wirklicher Dichter...² (Breicha) Artmann sagt über seine Schreibweise: ²Ich schreib nicht selbst. Es kommt nicht von mir, es kommt nicht aus dem Hirn. Es kommt wirklich aus dem Bauch raus. Und vom Hirn wird das reguliert, also verfeinert und geglattet... Wenn ich wüsste, was ich schreibe, dann wäre das kein Abenteuer mehr. Ich brauche das Abenteuer.² (Wer es versteht, der versteht es)
Die Surrealität, die die freien Assoziationen, die ungewöhnliche Folge von Bildern, die Darstellung des Phantastischen, das allein wirkende Schreiben mit sich zieht, ist der literarische Effekt in vielen seinen Gedichten und Prosastücken. Seine Literatur ist Reizkunst. In den Texten gibt es keine Ruhe, aber auch keine Entwicklung. Die Texte entwickeln sich Einfällen entlang. Die Einfällen können frei sein, sie ermöglichen breite Assoziationen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf den Gang, nicht auf den Ausgang, auf die Einzelheit, die Besonderheit, nicht aufs Ganze, nicht auf den Zusammenhang. Das führt zu einer montagenhaften Struktur. Die Einfallstruktur wird bei Artmann auf die syntaktische Ebene gebracht. Das Neue bei Artmann ist der interpunktions- und absatzlose Text, die Reproduktion tagtäglichen Sprechens, Meinens, Fühlens. Artmann reagiert auf eine versteinerte Sprache damit, dass er die Strukturen vorgeformten Materials manipuliert und Montagen verwendet. Auch auf der Inhaltsebene sind die Hierarchiebildungen aufgegeben.
Seine Prosa ist keine kontinuierliche Erzählung, sondern die Reihung von Episoden, von Szenen, die nicht ausgeführt und an einem bestimmten Punkt einfach abgebrochen werden. (S. Nachrichten aus Nord und Süd) Die Werken haben keinen abgerundeten Inhalt, der Handlungsaufbau, der Fabel, die Figurenentwicklung, der erzählerische Zusammenhang wird enthoben. Er ist eigentlich Lyriker auch in seiner Prosa.

Dialekt, Sprachspiele
Die Schriftsprache wird bei Artmann durch Umgangsprache oder Dialekt und durch Sprachspiele gebrochen. Artmann hat drei Bänden von Gedichten in Dialekt: med ana schwoazzn dintn, hosn rosn baa, Wiener Vorstadtballade. In diesem letzten ist der Text überwiegend hochsprachlich, aber mit Dialekteinschüben ausgestattet.
Er hat einen Dialekt hergestellt, den es nicht gibt, aber so klingt, als gäbe es ihn: phonetische Verfremdung, Schwarzer Humor der Wiener, bevölkert mit den Gruselkabinettfiguren und der Praterwelt, ein surreales Gewebe origineller Ausdrucksmöglichkeiten. Es wimmelt in diesen Gedichten von Kinderverführern, Ganoven, Blaubarten, vampirischen Raunzern... Die Lautschreibweise, die das Schriftbild kraus und komisch machte, zwingt den Leser zum Buchstabieren. Die Schreibweise ist von Artmann erfunden. Die Transkription dient nicht die Verständlichkeit, sie hat mit der Verfremdung des Lesers, vielleicht gar mit der Verspottung des eigenen Unternehmens zu tun.
Artmann schreibt Anti-Heimatdichtung, er wollte die althergebrachte und leer gewordene Heimatdichtung bekämpfen. Es war keine abbildende Dialektdichtung, sondern eine Sprachwelt mit eigenem Wirklichkeitsanspruch, zu dem die erlebte Realität in einem surrealen Verhältnis stand. Die neue Dialektdichtung zeigt eine radikale Ablehnung der Tradition.
Das Spiel mit der Sprache ist in Wortlautverdehnungen H. C. Artmanns zu erkennen. Durch Austausch der Laute ergibt sich eine Klangmalerei, der nur Dialektsprachlich gelingt.
In seinen Theaterstücken Die fahrt zur insel nantucket wird eine poetische Welt dargestellt, die ausschließlich durch die Sprache existiert. Sie bieten absichtslose Sprachspiele. Er hat in diesem Werk auch neue Dialekte geschaffen: Piktisch und Dacisch.

Reise, Ferne, Abenteuer
Artmann ist tatsächlich sehr viel in der Welt herumgekommen. Das Hauptziel seines Unterwegseins war immer das Reisen selbst, geprägt von der Erwartung, an jedem Ort das finden zu können, was Sinn seines Aufbrechens war: das Widererkennen der Träume.
Durch die Reise dehnt er die Grenzen seiner Dichtung aus.
In seiner Gedichtsammlung gedichte von der wollust des dichters in worte gefasst beschreibt er Reisen. Artmann präsentiert den Lesern Städte und Inseln in alphabetischer Reihenfolge. Ein Teil von diesen sind konkrete, wahre Plätze, wie Aranchuez, Graz, Moskau, Wien usw. Taprobane, dun aongusa, inishvikillane, ve. arsenale sind unter anderen fiktionale Plätze. Die Gedichte haben leise Töner, sie stellen Momente, ungewöhnliche Stadtpanoramen dar. Den Reisebildern fehlt das Bunte, das Impressonistische, dennoch haben sie die Duft des Meeres, das Bittere eines Ortes, die Vergänglichkeit des Wanderns eingefangen. Die Reisen finden in der Phantasie statt, in Gedanken, in der Sprache, in Bildern. In den Gedichten fehlt alles Modische: Krieg und Frieden, Umweltschutz, Chemieunfälle, Korruption. Diese Gedichte spiegeln nicht die Wirklichkeit, wie sie in den Zeitungen steht.
Die Reise ist auch Symbol für die Lebensreise, aber auch Hoffnung auf einen Zielort, wie das letzte Gedicht betitelt ist.

Traum
Der Traum ist der Bereich, in dem die Phantasie sich willkürlich entfalten kann. Dabei entstehen Bilder von großem Erfindungsreichtum. Der Traum hat eine magische Kraft, mit der man in die Zukunft blicken kann, mit der man die Grenzen in Zeit und Raum überschreiten kann. Das Leben ist ohne Traum nicht vorstellbar:
"Zuerst war der traum der menschen aus holz, später erst wurde es zu einem gespinst... In besonders kalten wintern fachte man aus träumen feuer, man warmte sich an ihnen, man verstand die kunst, selbst aus unnützen träumen nützliches zu bereiten, aus ihrer noch warmen asche machte man medizin, wer sie nahm, konnte zukünftiges erblicken..." (Die Sonne war ein grünes Ei) Der Traum ist bei Artmann etwas, was sich frei entfaltet, aber ist er auch geschlossen:²O ihr träumer von träumen, ihr träumtet nie, was ich träumte, und ich träume nie, was ihr träumt, und ihr werdet nie träumen, was ich träumen werde, denn ich träume meine träume und ihr träumt die euren.² (Grünverschlossene Botschaft 90)
In der Prosasammlung Grünverschlossene Botschaft beschreibt Artmann 90 Träume. Der Rahmen ist der Stoff der für das alte aus 90 Nummern bestehende Lottospiel verfassten Traumwahrsagebücher. Dieses Buch besteht aus ungewöhnlichen, einzigartigen Bilder von visuellen, auditiven Visionen. Die Grenzen werden fließend, verschiedene Sinnsphären sind miteinander vermischt.
Als gewisse Zügelung der Willkür funktioniert nur die Wenn-dann-Struktur (explizit oder implizit), dazu die Anredeform.

Auf dem Weg der Tradition (?)
Artmann lehnte einerseits die Tradition ab, andererseits wandte er sich aber an die Tradition im Sinne, dass er in einigen seiner Werken im Sprachkostüm des Barocks, im Wiener Dialekt schreibt, er bearbeitet den Edda-Stoff die altirischen Gebete, übersetzt/adaptiert jiddische Sprichwörter, persische Gedichte. Er studierte auch ältere Literatur. Er wiederschreibt Mythen aus den Urzeiten usw. Ich möchte hier drei Schwerpunkte hervorheben: die Dialektdichtung, die ich schon unter Punkt 4 behandelt habe, die Bearbeitung der Mythen und sein Band Aus meiner Botanisiertrommel: Balladen und Naturgedichte.
Wie geschrieben ist Artmanns Dialektdichtung Anti-Heimatdichtung. Er wollte die althergebrachte und leer gewordene Heimatdichtung bekämpfen. Es ist keine Abbildung. Also Artmann überschritt die Grenzen der Dialektdichtung, er schafft eine eigene Sprachwelt mit eigenem Wirklichkeitsbezug.
In den Werken Die Sonne war ein grünes Ei und Mein Erbteil von Vater und Mutter wird der Mythos von ihm auch nicht nach traditionellen Methoden bearbeitet. Diese Gattung ist für Artmann eine mögliche poetische Gattung, die nach dem Verschwund der Bildkraft darauf wartet, wieder erfüllt zu werden. Artmann bearbeitet die Mythen von Lappen, Iren, Eskimos, Afrikaner. Er benutzt raffinierte, ursprüngliche, manchmal witzige Bilder dabei.
In seinem Band Aus meiner Botanisiertrommel scheint er sich die Tradition der Deutschen Lyrik wieder anzueignen, aber er erfremdet seine eigene Erfahrungswelt, und er schafft neuartige poetische Mittel. Es ist gereimte Dichtung und steht in der Nähe vom Naiv-Heiteren, es ruft das Volkshafte in diesen Versen hervor. Die Inhalte werden von einer phantastischen Welt bestimmt, in der viel Gegensätzliches nebeneinander Platz findet - das Barock, die Romantik, Detektivfiguren, Handwerker, Sänger, Liebhaber usw.

Groteske
Perverser Humor, Verbindung von dem Grauen und dem Lächerlichen, latente Aggressivität, neurotische Bosheit sind für die groteske Darstellung charakteristisch. Artmann stellt die negativen Seiten der Gesellschaft dar, reißt Rituelles auf. Der Kannibalismus ist bei Artmann auch als eine Grenzüberschreitung dargestellt.
Das Groteske kommt auch in seinen Dialektgedichten vor. Tod und Vergänglichkeit, groteske Gestalten, wie ringlgschbüübsizza, der mörderische blauboad, kidafazara lauern überall. Der Kannibalismus hängt bei Artmann eng mit der Sexualität und den mit ihr verbundenen Verboten und Tabus zusammen. Die Blaubarten aus med ana schwoazzn dintn schlagen weibliche Opfer mit ²Hackerl² zusammen und sie vergraben sie unter dem Schlafzimmerboden, weil die erstgeliebte Frau ihm den ²gschdis² (Laufpaß) gegeben hat.
Das Motiv des Kannibalismus hängt andererseits mit dem Krieg zusammen. Der Husaren am Münster ist eine Metapher des zur Wehrmacht eingezogenen österreichischen Soldaten Artmann. Er nimmt schwere Verletzungen in Kauf, die als Folge einer kannibalischen Zerfleischung erscheinen.
Mit dem Manifest formulierte Artmann das Grundproblem der Kriegskannibalistik in noch verschärfterer Form. Der Kannibalismus wird hier Primitiven zugeschrieben. Die Wilden sind vielmehr ein Zeichen der Unkultur.
Das Thema verweist auf einen eher pessimistischen Deutungsversuch der Welt und nicht auf Essgewohnheiten. Der Kannibalismus konfrontiert den Leser mit den Mangeln der Sozialstruktur. Die primitive Kultur wird so zum Modell für eine verkehrt gespiegelte Kritik der Zivilisationskrise. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen artikuliert das kannibalische Verhalten Krisensituationen.

Die Werken von Hans Carl Artmann vermitteln Freiheit, Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der ständigen geistigen Bewegung, Ablehnung des Konservativen, eine ganz neue Betrachtungsweise.