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Beiheft WS 2004/2005 << Ein sprachpraktisches Projektseminar

1. Ein sprachpraktisches Projektseminar
1.1 Begründung dieses Projekts
1.2 Durchführung des Seminars



1. Ein sprachpraktisches Projektseminar

Die hier vorliegenden Texte sind auf der Basis von Interviews in einem sprachpraktischen Seminar am germanistischen Institut der Universität Szeged entstanden. Sie befassen sich alle in irgendeiner Weise mit der jüngsten Geschichte Ungarns aus einer ganz individuellen Perspektive. Das hier Erzählte ist ein Stück erlebter Geschichte, in dem politische und gesellschaftliche Veränderungen sich in den Biografien der Befragten ‘materialisieren’. Durch die Texte wird deutlich, dass historische Ereignisse immer mit persönlichen Schicksalen verknüpft sind und Geschichte immer nur als Geschichte von Menschen stattfindet.
Gerade in Ungarn dürften sich in der älteren Generation wohl schwerlich Menschen finden, die nicht vom ‘Atem der Geschichte’ berührt wurden, manche nur angehaucht, andere regelrecht an- oder weggepustet. Oft erscheint es so, als ob die Einzelnen einfach in die Ereignisse mit hineingezogen wurden und sie den Einbrüchen und Umbrüchen nichts entgegen setzen konnten. Manchmal kommt in den Interviews aber auch der Wille zum Mitgestalten und Umgestalten zum Ausdruck, aber immer steht in den Interviews das subjektive Erleben im Vordergrund. Mit dieser ganz persönlichen Sichtweise der Ereignisse ist verbunden, dass es in diesem Seminar nicht Ziel sein konnte, Texte zu erstellen, an die der Maßstab einer wie auch immer gearteten ‘political correctness’ angelegt werden könnte. Zahlen, Daten und Fakten werden so wiedergegeben, wie sie die Befragten aus ihrer Erinnerung genannt haben. Es ist daher auch möglich, dass sich einzelne Widersprüche zur aktuellen Geschichtsschreibung ergeben.


1.1. Begründung dieses Projekts

Bei der Entscheidung, ein ergebnis- und erfahrungsorientiertes sprachpraktisches Seminar zur jüngsten Geschichte Ungarns durchzuführen, spielten allgemeine didaktische und lerntheoretische Überlegungen ebenso eine Rolle wie die besondere Situation der Studierenden als zukünftige Deutschlehrerinnen und -lehrer in Ungarn. Das Seminar sollte zum einen dazu dienen, Sprach- und Sachwissen in einem für diese Klientel relevanten Bereich aufzubauen bzw. zu erweitern, zum anderen verstand sich diese Veranstaltung als ein Modell, wie im Fremdsprachenunterricht Unterrichtseinheiten geplant, durchgeführt und reflektiert werden können.
Gerade der letztgenannte Punkt verdient Beachtung. Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass die Vorstellungen über angemessenes Unterrichtshandeln stark geprägt sind von eigenen lernbiographischen Erfahrungen und dass theoretisches fachdidaktisches Wissen der praktischen Erprobung und Reflexion bedarf, wenn es in der zukünftigen Unterrichtspraxis wirksam eingesetzt werden soll (vgl. Schocker-v. Ditfurth 2002). Fehlt diese Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu Diskrepanzen zwischen dem, was man eigentlich will und dem, was tatsächlich in der Stunde geschieht, kommt. Für zukünftige Fremdsprachenlehrer, die ja in der Regel stets selbst Fremdsprachenlerner sind, ist es daher keinesfalls ohne Belang, ob Forderungen an den fremdsprachlichen Unterricht, wie sie in fachdidaktischen Seminaren erhoben werden, hochschuldidaktisch ihre Entsprechung finden. Die konkrete Begegnung mit glaubwürdigen Lehr-/Lernmodellen und die Möglichkeit zu deren Reflexion bietet eine Basis zur Ausbildung von beruflichen Handlungsdispositionen.
Der neuere Fremdsprachenunterricht ist nun einerseits geprägt von didaktischen Konzepten auf der Basis eines kommunikativen Ansatzes, andererseits durch kognitive Lerntheorien. Weder der kommunikative Ansatz noch einer kognitiven Lerntheorie verpflichtete Konzepte des Fremdsprachenunterrichts können ein Lernen durch Instruktion als vorrangig geeignete Methode der Vermittlung betrachten. Schlagwortartig könnte man für den kommunikativen Ansatz formulieren: Von der Instruktion zur Kommunikation und für die kognitiven Lerntheorien: Von der Instruktion zur Konstruktion. In der Gestaltung der Unterrichtspraxis führen beide Konzepte zu ähnlichen Ergebnissen1. Der Interaktion (und damit verbunden auch Kooperation), der Lernerorientierung und der Verantwortung für das eigene Lernen und damit der Selbsttätigkeit und dem autonomen Lernen wird jeweils – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – ein hoher Stellenwert eingeräumt. Strukturveränderung – also Lernen – ist nur möglich auf der Basis des bereits Vorhandenen und in eigenaktiver Auseinandersetzung mit den Anforderungen, die durch den Lerngegenstand herangetragen werden. Ein erfolgreicher Fremdsprachenunterrricht muss also anknüpfen an vorhandene kognitive Strukturen, aber gleichzeitig darüber hinausführen in die Zone der nächsten Entwicklung. Dies gelingt leichter, wenn der Lerner als Ganzes ins Blickfeld rückt, also auch die durch den Lerngegenstand und die Lernmethoden ausgelösten und stets vorhandenen Affekte. So formuliert List (2000, 154): „Fremd- und zweitsprachliche Lern- und Kommunikationsprozesse unterscheiden sich in einer Hinsicht nicht von allen anderen menschlichen Wahrnehmungen und Handlungen, nämlich darin, dass […] unser Gehirn, in allem, was wir erfahren und tun, Kognitionen und Affekte unverbrüchlich zusammenschließt.“ Eine dauerhafte Motivierung Leistungen in der Fremdsprache – auch unter schwierigen Bedingungen – zu erbringen, wird nur dann möglich sein, wenn den erforderlichen Tätigkeiten persönlicher Sinn zugeschrieben werden kann. Sinn ergibt sich für den Lerner zum Teil aus dem curricularen Zusammenhang, aber hinzutreten muss eine pragmatische (z.B. antizipierte Berufserfordernisse) und eine existenzielle (d.h. aus den Lebenszusammenhängen) Sinnbestimmung (vgl. Bönsch 2000, 77).

In Seminaren zur Sprachpraxis ist es manchmal ein Problem, einen in diesem Sinne überzeugenden und im Niveau angemessenen Inhalt zu finden. Teilweise werden schülerrelevante Themen umstandslos in universitäre Seminare übertragen, ohne zu bedenken, dass bei Studierenden ein ganz anderes Anspruchs- und Interessenniveau vorauszusetzen ist als bei Schülern.
Über die historischen Ereignisse in Ungarn in neuerer Zeit zu schreiben ist meiner Meinung nach für Germanistikstudierende in Ungarn ein angemessener Gegenstand mit einem entsprechenden kognitiven und emotionalen Herausforderungscharakter. Das Thema war für die Teilnehmer von unmittelbarem und auch existenziellem Interesse. Es ergaben sich weitere und zum Teil neue und ungewohnte Perspektiven auf die eigene Lebenssituation und die der Familie und des Landes. Dies umso mehr, da das Wissen um die jüngste Geschichte häufig sehr lückenhaft ist. In der Schule wurde Vieles nicht oder nur unter einer einseitigen Perspektive vermittelt und in den Familien ist Geschichte meist kein Thema. Es war schon überraschend, dass manche der Studierenden zum erstenmal von den Ereignissen in ihrer Familie hörten, obwohl sie mit den Interviewten – meist den Großeltern – in engem Kontakt stehen. Die Teilnehmer wussten natürlich alle in einer abstrakten Weise von der Verwobenheit von Einzelschicksalen und geschichtlichen Ereignissen und waren daher von vornherein sehr motiviert, mehr dazu zu erfahren.
Jedes der durchgeführten Interviews trug zur Ergänzung und Neuperspektivierung des vorhandenen Wissens der Interviewer und der übrigen Seminarteilnehmer bei. Geschichte wurde lebendig durch die Geschichten der Menschen, die sie – jeder auf seine ganz persönliche Weise – erlebt und erzählt haben. Es war unmittelbar zu erkennen, dass auch andere an den zu erarbeitenden Inhalten interessiert sind. Dadurch entstand eine natürliche Mitteilungssituation, die das Vortragen der Ergebnisse im Seminar und das Aufschreiben zu einer Selbstverständlichkeit werden ließen. Die Texte boten natürlich auch reichlich Anlass für Gespräche und Diskussionen, was bei einer Lektüre der Texte unmittelbar evident wird.
Die meisten Studierenden hatten den Wunsch, ihre Geschichte einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es gab jedoch auch Beiträge, die so stark die private Sphäre berührten, dass sie nur im Seminar verlesen werden sollten. Aus didaktischer Perspektive hatte das geschichtliche Thema den weiteren Vorteil, dass die Studierenden gezwungen waren, bei der Sache zu bleiben. Auch schwierige Sachverhalte mussten versprachlicht und die relevanten Begriffe verwendet werden. Ein Abschweifen oder Vermeiden war viel weniger möglich als dies bei fiktiven Texten der Fall sein kann.


1.2. Durchführung des Seminars

Im Folgenden ein kurzer Abriss zur Durchführung des Seminars, wobei drei Hauptphasen unterschieden werden (Vorbereitungs-, Durchführungs- und Schlussphase).

Vorbereitungsphase
Das Thema wurde zunächst gemeinsam genauer eingegrenzt. Dazu musste geklärt werden, welche Interviewpartner in Frage kamen und welche historischen Ereignisse angesprochen werden sollten. Man einigte sich auf die Zeit nach dem ersten Weltkrieg bis hin zum aktuellen Geschehen. Nach einer vorbereitenden Hausaufgabe entstand in Gemeinschaftsarbeit die folgende Übersicht über wichtige Daten der neueren ungarischen Geschichte als sachliche Grundlage der geplanten Interviews.

Stichworte zur neuesten Geschichte Ungarns

1920: Vertrag von Trianon; Miklós Horthy (Weißer Terror)
1927: Pengõ
1929/30: Wirtschaftskrise/Inflation
ca. 1935: Faschistische Einflüsse (Antijüdische Gesetze)
1941: Ungarn im II. Weltkrieg
1942: Tragödie an der Donkurve; deutsche Besatzung
1945: Kriegsende; sowjetische Besatzung
1945-48: Mehrparteienregierung
1946: Proklamation der Republik - Währungsreform (Forint)
1947: Gründung der MDP
ab 1949: Umgestaltung in eine sozialistsche Gesellschaft (Kollektivierung, Verstaatlichung)
1950: Diktatur der KP (Mátyás Rákosi); Industrialisierung
1956: Revolution
1957-63: Hinrichtungen, Repression, neue Kollektivierung der Landwirtschaft
ca. ab 1963: politische Erleichterungen und wirtschaftlicher Aufschwung (weiche Diktatur)
1988: Ungarn wird assoziiertes Mitglied der EU, Öffnung nach Westen; Kádár (MSZP) verliert Macht; Bildung neuer, demokratischer Parteien
1989: Ungarn wird Republik; Ungarn spielt eine wichtige Rolle beim Ende der DDR
1990: freie Wahlen; Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft

Auf der Basis dieser Daten wurden in Gruppenarbeit zu Teilabschnitten Fragenkataloge entwickelt und dann im Plenum diskutiert. Die Fragen, auf die sich die Studierenden schließlich einigten, wurden so formuliert, dass das Historische mit dem Individuellen, Persönlichen in Beziehung gesetzt werden konnte. Sie dienten als Leitlinie bei den geplanten Interviews, wobei je nach Interviewpartner verschiedene Schwerpunkte gesetzt werden konnten. Damit sollte vermieden werden, dass die Interviewpartner ins rein Private und Familiäre abdrifteten.

Aus dem umfangreichen Fragenkatalog im Folgenden einige Beispiele (chronologisch geordnet):

  • Hast du oder deine Familie Auswirkungen der Inflation und der Wirtschaftskrise erfahren?

  • Welche Sprachen wurden (vor dem II. Weltkrieg) in der Familie gesprochen?

  • Welche Auswirkungen hatte der Kriegseintritt auf das alltägliche Leben?

  • Haben Angehörige oder Bekannte am Don gekämpft?

  • Wie habt ihr die ‘Befreiung’ durch die sowjetische Armee erlebt?

  • Wie hast du die erste Kollektivierung und Verstaatlichung erlebt? Musstest du vielleicht eine andere Berufstätigkeit ausüben oder den Arbeitsplatz wechseln?

  • Was hat sich um 1950 im alltäglichen Leben verändert?

  • Hast du oder Bekannte oder Verwandte an der Revolution teilgenommen?

  • Heutzutage bildet sich ein Mythos der schönen glücklichen 60er-Jahre. Bist du damit einverstanden oder glaubst du, dass es sich um eine falsche Nostalgie handelt?

  • Kennst du Menschen, die während der Kádár-Diktatur im Gefängnis waren?

  • Welche Veränderungen waren für dich persönlich ab 88/89 zu spüren?

  • Welche Veränderungen konnte man in der Umgebung feststellen?

    Die Studierenden besprachen sodann ihre Zusammenarbeit in der Durchführungsphase, die Zeitplanung und die Wahl der Interviewpartners selbstständig. Partnerarbeit erschien den meisten für die Interviews als am besten geeignet. Bei den zu Befragenden handelte es sich meist um ältere Familienangehörige (meist Großeltern) oder Bekannte. Zum Abschluss der Vorbereitungsphase wurde ein Zeit- und Arbeitsplan erstellt, in dem genau festgelegt wurde, zu welchem Zeitpunkt welche Studierenden welche Arbeiten im Seminar präsentieren. Damit wurde gewährleistet, dass die einzelnen Arbeitsschritte von Reflexions- und Evaluationsprozesse begleitet werden konnten.

    Durchführungsphase
    Diese Phase gliederte sich in vier Abschnitte:

  • kurze Vorstellung der Person/en, die befragt werden sollte/n und Darstellung des methodischen Vorgehens

  • Durchführung der Interviews und anschließend mündliches Referieren der wichtigsten Ergebnisse

  • Austausch der ersten schriftlichen Fassungen und Diskussion in der Kleingruppe

  • Erstellen einer vorläufigen Endfassung

    Schon bei der ersten Vorstellung der zu interviewenden Personen und des geplanten Vorgehens ergaben sich Fragen und Anregungen für die weitere Arbeit. Zeitlich gestaffelt präsentierten die Teilnehmer sodann die wichtigsten Ergebnisse ihrer Interviews. Diese Referate stießen bei den Zuhörern auf starkes Interesse, da der Inhalt zumeist von unmittelbarem Interesse für alle Beteiligten war. Es gab zahlreiche Nachfragen und teilweise wurden heftige Diskussionen ausgelöst. Diskussionen entzündeten sich insbesondere dann, wenn noch weitgehend Unbekanntes und Unvermutetes oder kontrovers Bewertetes vorgestellt wurde.
    Fast alle Interviews wurden auf ungarisch geführt. Das heißt, dass die Interviewer nicht nur einen Text erstellen, sondern auch Übersetzungsarbeit leisten mussten.

    Den Studierenden war freigestellt, in welcher Form die notierten oder aufgenommenen Gespräche verarbeitet werden sollten. So konnten ganz unterschiedliche Textformen realisiert werden. Nachdem die ersten schriftlichen Fassungen erstellt worden waren, wurden diese innerhalb von Kleingruppen ausgetauscht, formal, sprachlich und inhaltlich diskutiert und dann entsprechend der Vorschläge überarbeitet. Zu diesem Zweck schlossen sich zwei bis drei Interviewgruppen zu einer größeren Gruppe zusammen, innerhalb derer dann Schreibkonferenzen2 stattfanden.

    Schlussphase
    In der Schlussphase stellten die Autoren die vorläufigen Endfassungen sukzessive dem Plenum vor. Weitere Anregungen und Überarbeitungsvorschläge wurden aufgenommen. Erst danach wurde der Text von mir bzw. von meiner DaF-Praktikantin gelesen und nochmals besprochen. Die endgültige Fassung konnte dann bis zu einem vereinbarten Termin eingereicht werden. In einer abschließenden Reflexion waren z.B. folgende Punkte von Relevanz:

  • Erfahrungen der Studierenden während des Seminars

  • Schreiben in der Fremdsprache und die Prozesshaftigkeit der Textherstellung unter den Bedingungen der Autonomie und Kooperation

  • Relevanz der Erfahrungen für die Studierenden in ihrer Rolle als zukünftige FremdsprachenlehrerInnen

  • Übertragbarkeit des Modells auf schulische Situationen

    Margarete Ott

    Literatur

  • Bönsch, Manfred: Variable Lernwege. Ein Lehrbuch der Unterrichtsmethoden. 3. Aufl. Paderborn 2000.

  • List, Gudula: Zur Rolle von Emotion und Akkomodation in der Interaktion. In: Bausch, Karl-Richard/Christ, Herbert/Krumm,

  • Hans-Jürgen (Hrsg.): Interaktion im Kontext des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Tübingen 2000, 154 - 160.

  • Schocker-v. Ditfurth, Marita: Forschendes Lernen in der Fremdsprachenlehrerausbildung. Erfahrungen mit einem multiperspektivischen Ansatz. In: Fremdsprachen lehren und lernen. 2002, 151 - 166.

  • Wolff, Dieter: Zu den Beziehungen zwischen Theorie und Praxis in der Entwicklung von Lernerautonomie. In: Edelhoff, Christoph (Hrsg.): Autonomes Fremdsprachenlernen. Ismaning 1999, 37 - 49.